1. Epistemologie, Lerntheorien und Lehr- und Lernmethoden

Die Situationen, in denen interkulturell gelernt wird bzw. werden soll, können sehr unterschiedlich sein, enthalten aber auch Gemeinsamkeiten. Es handelt sich stets um einen Lernprozess, der kulturell geprägt ist, bei dem Lernkulturen zu berücksichtigen sind. In Abhängigkeit der Lehr- und Lernkultur erfolgt in der Regel auch die Gestaltung interkulturellen Lehrens und Lernens. Denn kulturelle Prägungen des Lehrens und Lernens beeinflussen das Lernziel, das Erkenntnisinteresse, die Lehrgegenstände (Inhalt), lerntheoretische Überzeugungen und Lehr-/Lerntraditionen. Bevor wir uns genauer mit interkulturellem Lehren und Lernen beschäftigen, widmen wir uns zunächst dem Konzept des Lernens. Denn Annahmen über das Lernen führen zu entsprechenden Lehr- und Lerntheorien.

Aus unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven – Gehirnforschung, Biologie, Psychologie, Soziologie – wird die Frage "was ist Lernen?" immer wieder neu gestellt und beantwortet. In der klassischen Definition bezieht sich Lernen auf "die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial eines Organismus in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situation zurückgeht" (Bower/Hildegard 1983, S. 31).

Diese Definition enthält drei zentrale Elemente: Verhalten – kognitive Lernprozesse – Erfahrung, die uns in Teilen aus der Kompetenzforschung und der Forschung zu interkultureller Kompetenz bekannt sind. Welche Voraussetzungen für diese Erkenntnis, für das Zustandekommen von Wissen erfüllt sein müssen, wird erkenntnistheoretisch unterschiedlich beantwortet, da unterschiedliche Erkenntnistheorien existieren. Die diesem Manual zugrunde liegenden Annahmen basieren auf der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus.

Abbildung: Erkenntnistheorie und Lerntheorie

Erkenntnistheorie und Lerntheorie

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020.

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Die erste Erkenntnistheorie in der Abbildung (7) ist der Empirismus. Der Empirismus (lat. "empiricus", der Erfahrung folgend) befasst sich mit der Kernfrage der Aufklärung: Gibt es eine Erkenntnis, ohne dass der Mensch vorher mit der Außenwelt in Kontakt tritt? Vertreter dieser philosophischen Denktradition sind u.a. Thomas Hobbes (1588-1679), John Lock (1632-1704) und David Hume (1711-1776). John Lock (1689) widmet sein Hauptwerk "Abhandlung über den menschlichen Verstand" dem Empirismus. Empiristen lehnen ein erfahrungsunabhängiges Wissen ab, weil sie davon ausgehen, dass der menschliche Verstand zunächst eine "tabula rasa" ist. Alle Erkenntnis kann nur auf solchem Wissen gründen, das wir aus der Erfahrung durch die Sinne beziehen (sehen, hören, schmecken, riechen, tasten). Aussagen über die Welt können nur über echte Erfahrungen getroffen werden. Ihre These stützen sie auf empirische Feld- und Laboruntersuchungen, bei denen Objekte, Lebewesen oder Sachverhalte beobachtet werden und leiten daraus Erkenntnisse über beispielsweise menschliche Verhaltensweisen, Tierarten oder gar das Sonnensystem ab.

Der Rationalismus (lat. "ratio", Vernunft) hingegen geht davon aus, dass eine Erkenntnis aus reinem Denken möglich ist. Der Mensch ist also nicht auf Erfahrung angewiesen, um Erkenntnisse über die Welt und ihren logischen Aufbau zu haben. Der Satz "Ich denke, also bin ich" (René Descartes 1596-1650) hebt den menschlichen Verstand heraus. Das Erkenntnisinteresse über die Wirklichkeit vom denkenden Ich führt zu dem Schluss, dass wir ein Ich-Bewusstsein haben und mit der Fähigkeit des Denkens ausgestattet sind. Die Rationalisten gehen davon aus, dass nur der menschliche Verstand in der Lage ist, Wirklichkeit zu erfassen. Entscheidend sind demzufolge berechenbare, der Logik folgende Gesetzmäßigkeiten, wie sie in der Mathematik oder Physik vorkommen.

Die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus (lat. "construere", gestalten) ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, die davon ausgehen, dass Menschen mit ihrer Wahrnehmung die Welt nicht einfach abbilden, sondern sie erst konstruieren. Aus der Sicht des Konstruktivismus wird angenommen, dass das Wissen des Menschen nicht mit der objektiven Wirklichkeit übereinstimmt. Der Mensch ist demzufolge nicht in der Lage, allumfassend und zu jederzeit die objektive Wirklichkeit wahrzunehmen. Der Mensch konstruiert sich seine eigene subjektive Wirklichkeit unter anderem durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt.

Die Überzeugungen aus den Erkenntnistheorien spiegeln sich in den Annahmen zum Lernen, in Lerntheorien wider. Es existieren viele Lerntheorien, zu den bekanntesten zählen der Behaviorismus – Lernen durch Verstärkung, der Kognitivismus – Lernen durch Einsicht und Erkenntnis und der Konstruktivismus – Lernen durch persönliche Erfahrung, Erleben und Interpretieren (siehe auch Abb. 7).

Der Behaviorismus beruht mit seinen Hauptvertretern I. P. Pawlow (1849-1936), J. B. Watson (1878-1958) und B. F. Skinner (1904-1990) erkenntnistheoretisch auf dem englischen Empirismus (John Lock 1632-1704). Das Gedächtnis ist diesem zufolge leer und aufnahmebereit und es werden Erfahrungen in das Gedächtnis "eingeschrieben". Dieses Einschreiben kann unter anderem durch Konditionierung über Reiz-Reaktionslernen erfolgen wie in Abbildung 8 dargestellt. Das heißt, auf einen bestimmten Reiz wird eine Reaktion antrainiert (z. B. Pawlowscher Hund oder Skinner-Box).

Abbildung: Black-Box-Modell der Psychologie

Black-Box-Modell der Psychologie

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020

Diese Form des Lernens ist zum Beispiel aus Sprachlaboren bekannt oder auch von Lernprogrammen für Fremdsprachen, bei denen vorgesprochene Sätze (Reiz) durch Wiederholung (Reaktion) verinnerlicht werden. Lernen ist extrinsisch motiviert.

Der Kognitivismus gründet erkenntnistheoretisch im französischen Rationalismus (R. Descartes 1596-1650; C. Wolff 1679-1754). Als Teilgebiet der Psychologie beschäftigt sich der Kognitivismus vorrangig mit der Informationsverarbeitung und den höheren kognitiven Funktionen des Menschen. Im Gegensatz zum Behaviorismus ist das Gedächtnis bzw. das Bewusstsein keine Black-Box. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier das Bewusstsein, um Hypothesen über Lernprozesse formulieren zu können. Einer der prägenden Vertreter entsprechender kognitionspsychologischer Ansätze war Jean Piaget (1896-1980). Lernen erfolgt als kognitive Auseinandersetzung mit dem Erfahrenen. Der Lernende setzt sich aktiv mit der Umwelt auseinander ("entdeckendes Lernen"), leitet Regeln ab und reagiert dabei sowohl autonom als auch metakognitiv (siehe folgende Abbildung).

Abbildung: Stadien der kognitiven Entwicklung

Stadien der kognitiven Entwicklung

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020

Das heißt, dass die inneren Prozesse des Menschen Gegenstand der Forschung sind: Die Art und Weise, wie Menschen Informationen aufnehmen, verarbeiten, verstehen und erinnern. Lernen ist auf diese Weise intrinsisch motiviert (Bolten, 2020).

Konstruktivistische Lerntheorien werden seit den 1990er Jahren insbesondere unter dem Einfluss von Ergebnissen der Kognitionspsychologie und der neurobiologischen Forschung entwickelt. Zentral sind die Annahmen, dass Lernen

  • sich als individuelle Konstruktion durch kollaborative Vernetzung in bestimmten sozialen Umwelten vollzieht,
  • sich als Prozess des Teilens individueller Erfahrungen und Wirklichkeitsbilder vollzieht und im Detail nicht vorhersagbar ist,
  • eher als prozess- denn als ergebnisorientiert erfolgt und
  • sich ohne eindeutige Rollenzuweisungen ereignet in dem Sinne, dass Lehrende Lernende sind und vice versa.
Abbildung: Konstruktivistisches Lernen

Konstruktivistisches Lernen

Quelle: In Anlehnung an Groshell, 2019

Die aus den Erkenntnistheorien abgeleiteten Lerntheorien führen auf Basis ihrer jeweiligen Annahmen über das Lernen zu bestimmten Lehr- und Lernmethoden.

Lehr- und Lernmethoden sind konzipierte Wege zur Realisation kontextrelevanter Erkenntnisinteressen bzw. Zielsetzungen und lerntheoretischer Überzeugungen. Das heißt, dass sich die Lehr- und Lernmethoden nach der Hypothese der jeweiligen Überzeugungen richten, wie Wissen generiert und weitergegeben wird. Lehrmethoden basieren demnach auf den Erkenntnissen (Hypothesen) über Lernvorgänge. Sie werden aus Lerntheorien entwickelt, wie in der folgenden Abbildung zu sehen.

Abbildung: Lehr- und Lernmethoden

Lehr- und Lernmethoden

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020

  • Aus dem Empirismus geht der Behaviorismus hervor und die Konzeption der Lehr- und Lernmethoden zur Realisation der Zielsetzung sind instruktive/distributive Lehr- und Lernmethoden.
  • Aus dem Rationalismus geht der Kognitivismus hervor und die Konzeption der Lehr- und Lernmethoden sind instruktiv/distributiv und interaktiv.
  • Aus dem Konstruktivismus folgen konstruktivistische Lerntheorien, woraus als Lehr- und Lernmethoden interaktive/kollaborative Methoden resultieren.

Für ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Lehr- und Lernmethoden können Sie sich folgendes Video ansehen:

Video: Lehr- und Lernmethoden im Vergleich (IntercultureTV auf Youtube)

Quelle: IntercultureTV, https://www.youtube.com/watch?v=HulIkh7BYt0

Dieses Video entstand im Rahmen eines Seminars zur Konzeption interkultureller Trainings an der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter der Leitung von Prof. Bolten. Es veranschaulicht auf unterhaltsame Weise den Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie, Lerntheorie

Entscheidungskriterien dafür, welche Erkenntnis- und Lerntheorie sowie methodischen Orientierungen für interkulturelles Lehren- und Lernen gewählt werden, hängt davon ab, was unter interkultureller Kompetenz verstanden wird. Ausgehend von der Beschreibung, was wir unter interkultureller Kompetenz verstehen, lassen sich folgende Kriterien für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen formulieren:

  • Interkulturalität als Unbestimmtheitserfahrung bedeutet ein subjektiver Mangel an Relevanz, Plausibilität, Normalität, was wiederum dazu führt, dass keine Routinehandlungen möglich sind.
  • Interkulturelles Lernen als Baustein im Lernprozess von interkultureller Kompetenz trägt dazu bei, diese Unbestimmtheit als Herausforderung (nicht als Bedrohung) wahrzunehmen. Die Herausforderung des Miteinanders besteht darin, Bedingungen einer gemeinsamen Normalität ‚auszuhandeln‘.
  • Interkulturelle Kompetenz heißt in dieser Situation beziehungsreflexiv handeln und kontextangemessen entscheiden können, wie viel Bestimmtheit (Struktur) für die in einem konkreten Handlungskontext Beteiligten jeweils nötig und wie viel Unbestimmtheit/ Öffnung (Prozessdynamik) möglich ist, um ein Miteinander konstruktiv und nachhaltig gestalten zu können.
  • Und dies gelingt insbesondere über Akzeptanz von Mehrwertigkeit, Unvertrautheit und Unsicherheit, mit dem Ziel, dass eine Öffnung gegenüber Unbekanntem erfolgt, die wiederum dazu beiträgt, dass Vielfalt und Ambiguität zugelassen werden (Flexibilitätsbereitschaft) (Bolten, 2020).

Interkulturelles Lehren und Lernen so zu konzipieren, dass die Grundlagen zur Entwicklung Interkultureller Kompetenz als Transferkompetenz vermittelt werden, führt zwangsläufig zur konstruktivistischen Erkenntnis- und Lerntheorie. Für ein besseres Verständnis dieses Rückschlusses laden wir Sie im Folgenden ein, Ihr Wissen zum Konstruktivismus zu vertiefen.

2. Annahmen über das interkulturelle Lernen aus konstruktivistischer Perspektive

Eine Antwort auf Paul Watzlawicks Frage "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" kann aus konstruktivistischer Sicht nur lauten "Die Wirklichkeit ist so wirklich wie sie für den Menschen wirklich ist". Das ist auf den ersten Blick sehr verwirrend, verweist aber auf den Grundgedanken der konstruktivistischen Annahme, dass Wirklichkeit beobachtungsabhängig, und somit rein subjektiv ist.

Konstruktivismus findet in einer Lebenswelt, in sozialen Verhältnissen statt, ist also immer sozialer Konstruktivismus (Siebert, 2005, S. 17; Reich, 1998, S. 385). Der hier verwendete Begriff der Lebenswelt geht auf Alfred Schütz zurück. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeit, "an der der Mensch in ausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt" (Schütz & Luckmann, 1979, S. 25). In diese Lebenswelt kann der Mensch eingreifen und sie verändern, gleichzeitig existieren in der Lebenswelt Ereignisse, Handlungen und Handlungsergebnisse, die die freien Handlungsmöglichkeiten beschränken. Die Lebenswelt wird intersubjektiv geteilt. Sie zeichnet sich durch Sinnhaftigkeit und Plausibilität aus. Dadurch wird sie von den Menschen als Normalität erlebt und nicht hinterfragt (Schütz/Luckmann, 2003, S. 49f.). So wird dem Menschen das Handeln in Routinen ermöglicht. Wirklichkeit wird nicht nur durch symbolische Interaktionen in sozialen Bezugsgruppen konstruiert, sondern auch in politisch-ökonomischen Verhältnissen, die durch Macht, Hierarchien, Partizipationschancen, Eigentum, Massenmedien und Ähnliches gekennzeichnet sind.

Die konstruktivistischen Annahmen über Wirklichkeitskonstruktionen entsprechen unserem Kulturverständnis und der daraus folgenden Definition von Kulturalität, so wie sie auch bei Rathje und im Boltenschen Ansatz von interkultureller Kompetenz als Transferkompetenz zu finden sind.

Der Zugang zur intersubjektiv geteilten Wirklichkeit ist die Kommunikation. Kommunikation ist die menschliche Praktik, mit der zugleich Identität, Beziehung, Gesellschaft und Wirklichkeit festgestellt werden und gleichzeitig das Mittel, mit dem sich Menschen absichtsvoll Botschaften zukommen lassen. Kommunikation dient in diesem Verständnis vor allem der Vermittlung sozialer Identität und sozialer Ordnung (vgl. Keller et al. 2013, S. 13). Kommunikation ist das Medium unserer gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Yildirim-Krannig 2014, S. 205). Kommunikation ermöglicht demnach die Koordination zwischenmenschlicher Handlungen und auch die soziale Zugehörigkeit. Da Kommunikation auf Sprache basiert, ist die Struktur der Kommunikation immer schon kulturell vorgegeben. Sprache ist das wichtigste Medium unserer Wirklichkeitserzeugung (vgl. Siebert 2005, S. 56). Unsere Muttersprache, aber auch subkulturelle Milieusprachen, Berufssprachen, Dialekte sind Ausdruck und Bedingung unserer Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Siebert 2005, S. 24; Kriegel-Schmidt 2011, S. 138). Sprache bildet die Außenwelt nicht realistisch ab, sondern Sprache interpretiert die Wirklichkeit, und sie erzeugt Wirklichkeit eigener Art (Siebert, 2005, S. 56). Darauf verweist der symbolische Interaktionismus von Herbert Blumer (1969) basierend auf den Überlegungen Georg H. Meads zur Identitätsentwicklung (Geist, Identität und Gesellschaft 1934).

Welche Implikationen lassen sich aus den vorgestellten Ansätzen des Konstruktivismus für Lehr- und Lernkontexte ableiten?

Aus konstruktivistischer Perspektive werden beim Lernen die individuellen Konstruktionsprozesse betont:

  • Lernen vollzieht sich immer in Abhängigkeit der eigenen Vorerfahrungen und den individuellen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen. Die beim Lernen generierten Wissensbestände können demnach nicht als objektives Abbild der Welt verstanden werden, sondern sind subjektive Konstruktionen (Mietzel 2019; zit. nach Gudjons/Traub 2020, S. 236).
  • Lernen wird im Konstruktivismus stets als aktiver Prozess verstanden und im Sinne des sozialen Konstruktivismus in der Auseinandersetzung mit anderen Subjekten.
  • Lernen und Konstruktionsprozesse funktionieren am effektivsten im Austausch mit anderen. Dieser Ansatz des Lernens bemüht sich um ein gemeinsames Verständnis mithilfe von Verbalisierung und Abgleich individueller Konstrukte (vgl. Gudjons/Traub 2020, S. 236).
  • Lernen als Konstruktion der Wirklichkeit ist ein lebenslanger Lernprozess.

Ob gelernt wird und was gelernt wird, hängt also weniger von den Inputs als vor allem von der individuellen kognitiv-emotionalen Vorstruktur und der psycho-physischen Befindlichkeit ab, aber auch vom Kontext, also von der Lernumgebung, der Lerngruppe, den biografischen und beruflichen Verwendungssituationen. Lernen ist kein Transport des Wissens von A nach B, Bedeutungen können nicht linear mitgeteilt werden, sondern das System konstruiert seine Welt des Bedeutungsvollen (Arnold 2015, S. 32).

Lernen soll das Möglichkeitsspektrum von Wirklichkeitskonstruktionen und damit das Repertoire an Handlungen und Problemlösungen erweitern. Konstruktivistisches Lernen erfordert die Öffnung für Neues, für Fremdes, für Irritierendes (ebd., S. 34).

Aus der konstruktivistischen Lerntheorie heraus eröffnet sich uns ein didaktischer Pfad zur Art und Weise, wie Menschen ihre Wirklichkeit konstruieren:

  • Konstruktion: "Wir sind Erfinder unserer Wirklichkeit." Das bezieht sich auf den Aufbau neuer Bilder und Erfahrungen, zum Beispiel durch Experimente.
  • Rekonstruktion: "Wir sind Entdecker unserer Wirklichkeit." Damit sind die Wirklichkeiten anderer zu entdecken und in die eigenen Erfahrungen zu integrieren gemeint.
  • Dekonstruktion: "Es könnte auch noch anders sein! Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit." Damit ist jene Perspektive gemeint, die Gewissheiten befragt zugunsten von kritisch-skeptischen Einwänden durch die Einnahme eines gänz¬lich anderen Beobachterstandpunktes. (Reich 2010, S. 118 ff.; Reich, 2012, S. 182 ff.; Holtz, 2008, S. 107 ff.).
3. Interkulturelles Lehren und Lernen vor dem Hintergrund konstruktivistischer Didaktik

Didaktik bezieht sich in dieser Perspektive auf alle Bereiche, die Konstruktion von Wahrnehmungen und deren Veränderungen betreffen und dient der Planung und Gestaltung von Lernsituationen (Ar¬nold, Krämer-Stürzl & Siebert 2011, S. 78). Didaktik hat immer folgende Frage zu berücksichtigen:

Wer (Lernbegleiter oder Lernbegleiterin) ermöglicht wem (Lernende) was (Inhalte) wozu (Ziele) wie (Methode) womit (Medien) wann und wo (Lernumgebung) mit welchem Produkt (Wirkung)?

Didaktik als wissenschaftliche Betrachtung von Lehre hat also immer mit Wirklichkeitskonstruktionen zu tun, die vermittelnder Art ist. Didaktik vermittelt nämlich zwischen den beteiligten Kommunikationspartnern (zwei Personen, mehrere Personen) nach bestimmten Mustern. Damit sind die zentralen Ausgangspunkte konstruktivistischer Didaktik bezeichnet.

Bei der Auswahl von interkulturellen Lehr- und Lernmethoden sind Lehr- und Lernkontext, Lernziel, Zielgruppe und der zu lernende Inhalt ebenfalls zu berücksichtigen.

Wechselseitige Bedingungsverhältnisse der Faktoren

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2011, S. 3

Didaktische Zielsetzungen lassen sich mittels bestimmter methodischer Werkzeuge (den Methoden) einlösen. Wie diese Werkzeuge geformt sind, hängt wesentlich von dem Erwartungshorizont ab, den man mit Lernprozessen verbindet. Diese lerntheoretischen Prämissen wiederum versuchen dem Erkenntnisinteresse einer Zielgruppe gerecht zu werden. Oder umgekehrt gedacht:

Das, was für mich wichtig ist zu erkennen, um mich in meiner Lebensumwelt orientieren und Handlungsanforderungen meistern zu können, strukturiert unmittelbar die Art und Weise der für mich in diesem Zusammenhang passfähigsten Formen des Lernens.

Die entsprechend spezifische Art etwas zu lernen (und natürlich auch weiter zu vermitteln, d.h. zu lehren), hat wiederum Einfluss auf die Konzeptualisierung bzw. Wahl der Methoden, die ich einsetze, um dies zu erreichen. Und das wiederum bestimmt die Passfähigkeit bestimmter Übungsmethoden und Lehrpraktiken (Bolten 2011, S. 4).

Diese Methoden interkulturellen Lehrens und Lernens schauen wir uns nun genauer an. Bolten (2011) veranschaulicht mit seiner Methodenlandkarte, welche Methoden, Inhalte, Übungstypen und Übungen im Zusammenhang mit bestimmten Lernzielen für konkrete Zielgruppen und Lernszenarien geeignet sind. Sein Modell ist für die Konzeption interkultureller Trainings konzipiert, lässt sich aber genauso gut auf andere interkulturelle Lehr- Lernkontexte übertragen.

Abbildung: Methodenlandkarte

Methodenlandkarte

Quelle: Bolten 2016b, S. 85. Grafik nachgebaut von Vera Harder.

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Entlang der Y-Achse werden Lehr- und Lerninhalte angeführt und auf der X-Achse befinden sich die Methoden, die wir im Zusammenhang mit den Erkenntnis- und Lerntheorien kennengelernt haben (distributiv/instruktiv, interaktiv, kollaborativ). Zusätzlich beinhaltet das Modell die Schichten Übung, Trainings/Übungstypen und Lern-/Trainingsziel, die sich jeweils in die X- und Y-Achse einordnen lassen. Unterhalb der Methodenlandkarte wird aufgezeigt, wohin sich die Methoden jeweils ausrichten, je nach Methodenwahl: Distributive Methoden sind lernbegleiter- bzw. lernbegleiterinnenzentrierter als beispielsweise interaktive oder kollaborative Methoden usw.

Wir betrachten die Schicht Lern-/Trainingsziel. Die Zielsetzung interkulturellen Lehrens und Lernens bestimmt wesentlich den Inhalt (Content) von Seminaren, Trainings, Workshops etc. Geläufig sind a) kulturunspezifisch, b) kulturspezifisch und c) interkulturell ausgerichtete Inhalte. Der Leitfaden fokussiert auf kulturunspezifische Inhalte, da dies der Zielsetzung des Onlinekurses Interkulturelle Kommunikation entspricht.

Vermittlung kulturunspezifischer Inhalte
1. Beispiel: Zielsetzung kulturunspezifische Inhalte

Verstehen von Wahrnehmungsprozessen, Zuschreibungen, Stereotypenbildung, wie Unbestimmtheitssituationen entstehen und welche Handlungsmöglichkeiten es im Zusammenhang gibt. Vielfalts- und Relationalitätskozepte kennen, die kulturkonstruktive Rolle von Kommunikation verstehen, verstehen wie Vertrauen entsteht etc.

Geeignete Methode: distributiv/instruktiv

Die Vermittlung der Inhalte kann über Modelle und Theorien zu den jeweiligen Themen, die in Form von beispielsweise Texten, Kurzpräsentationen, Educasts vermittelt werden, erfolgen. Zu Übungszwecken und zur Verständnissicherung können Erklärfilme mit zielgruppenspezifischen Aufgaben verknüpft werden.

Kulturunspezifischer Inhalt, distributiv/instruktive Aufgabe zur Verständnissicherung

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben mithilfe eines Kulturmodelles die unterschiedlichen Kulturverständnisse und die sich daraus ergebenden Interkulturalitätsansätze kennengelernt. Nun soll dieses Verständnis gesichert werden und wird daher mit einer Aufgabe verknüpft:

Aufgabe: Definition des Begriffs Interkulturelle Interaktion

Lesen Sie sich die Interkulturalitätsdefinitionen durch und beantworten Sie folgende Frage: Was haben die Definitionen gemeinsam und worin unterscheiden sie sich voneinander? Notieren Sie Ihre Antworten in Ihrem Learning Journal.

Sortieren Sie die Definitionen nach ihrer Position auf einer Skala zwischen erweitertem-offenem und erweitertem-geschlossenem Verständnis von Kultur.

2. Beispiel: Zielsetzung kulturunspezifische Inhalte

Mit Unsicherheit/Unplausibilität umgehen können; perspektivenreflexiv handeln und sprachsensibel kommunizieren können; Vielfalts- und Vielheitskonzepte sowie ganzheitliches Denk- und Handlungsmodelle alltagspraktisch ausprobieren, Empathievermögen trainieren etc.

Abbildung: Strukturprozessuale Perspektive der Unbestimmtheit

Strukturprozessuale Perspektive der Unbestimmtheit

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020.

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Geeignete Methode: interaktiv

Handlungsorientierte Übungen, Mehrwertige Rollenspiele (Rollendiversität der Einzelnen), World-Café, Simulationen ohne kulturspezifische Bezüge, bei denen primär Erfahrungen von Unsicherheit/Unplausibilität erzeugt werden; Kleingruppen-Workshops etc.

Kulturunspezifischer Inhalt, interaktive Aufgabe

Das Ziel ist die Entwicklung von Reziprozitätssensibilität, Empathie und Handlungsstrategien in eher unvertrauten Situationen (Transferkompetenz) – so viel Prozess wie möglich, so wenig Struktur wie nötig (siehe auch Abb. 14). Der Konstruktionsfokus liegt auf dem Prozess bzw. der Beziehungsgestaltung der Teilnehmenden und nicht auf den Akteuren und Akteurinnen. Regeln werden vorgegeben. Es entstehen heterogene Situationen mit ergebnisoffenem Ausgang.

BARNGA Spielablauf: Die Teilnehmenden werden in mindestens drei Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe erhält ein Kartenspiel und eine eigene Spielanleitung mit eigenen Regeln, was sich ihrer Kenntnis entzieht. Nachdem sich alle mit den Regeln vertraut gemacht haben, darf nicht mehr gesprochen werden und das Spiel kann beginnen. Nach der dritten Runde innerhalb der jeweiligen Gruppen verlassen die Personen mit dem meisten Spielrundensiegen die eigene Gruppe und wechseln im Uhrzeigersinn zu einer anderen Gruppe, so dass sich mindestens ein neues Mitglied in den Gruppen einfindet. Die Teilnehmenden merken, dass ihre Routine nicht mehr funktioniert und auf einmal ganz andere, vermeintlich unklare bzw. unlogische Regeln herrschen, die sich ihnen nicht erschließen.

3. Beispiel: Zielsetzung kulturunspezifische Inhalte

Mit Unsicherheit/Unplausibilität konstruktiv eigeninitiativ umgehen können; Projekte mit kulturunspezifischer Thematik kollaborativ und eigenverantwortlich durchführen; Regeln zur gruppenbezogenen Aushandlung von Handlungsplausibilität in unsicheren/ komplexen Situationen initiieren etc.

Geeignete Methode:

Die Erlebnispädagogik setzt auf erfahrungsbasiertes Lernen. Grenzsituationen verunsichern gewohnte Handlungsmuster so sehr, dass diese nicht mehr greifen. So werden Explorationsversuche, Veränderungen, Neuorientierungen notwendig. Die Herausforderungen sollen gemeinsam bewältigt werden. Lernen ist ein natürlicher sozialer Akt und findet durch Reden, den Versuch, Probleme zu lösen und den Versuch, die Welt zu verstehen statt.

Kulturunspezifischer Inhalt, kollaborative Aufgabe
  • Innerhalb einer Organisation (z. B. Unternehmen) werden verschiedene Teams zusammengebracht und vor ein Problem gestellt, dass es zu lösen gilt. Das Problem ist in diesem Fall die Einführung eines neuen Schulungsprogramms. Es wird nur in groben Zügen umrissen, welches Ergebnis ungefähr erwartet wird. Die Teams sollen nun an einer Lösung arbeiten. Am Ende stellen die Teams vor, was sie entwickelt haben, begründen ihre Wahl und umreißen ihre Pläne zur Erfüllung der Aufgabe.
  • Studierende Wikis, Educasts o. Ä. zu relevanten Fragestellungen eines Gegenstandsbereichs erstellen lassen.
Vermittlung kulturunspezifischer Inhalte
  • Der Einsatz von Rollenspielen oder Simulationen erhalten durch mehrwertige Akteursszenarien eine realitätsangemessenere Komplexität. Dadurch verringert sich die Stereotypisierungsgefahr im Vergleich zu Kultur A vs. Kultur B-Rollenspielen
  • Unbestimmtheitserfahrungen sind Bestandteil von Kreativitätsprozessen und sollten bei der Erstellung von Übungen bedacht werden.
  • Für die Erarbeitung kollaborativer Übungen empfiehlt sich die Einbeziehung erlebnispädagogischer Erfahrungen.
Abbildung: Zusammenfassung - Vermittlung kulturunspezifischer Inhalte

Zusammenfassung: Vermittlung kulturunspezifischer Inhalte

Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2020.

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Die Vermittlung kulturunspezifischer Inhalte kann sowohl über distributive, über interaktive als auch über kollaborative Methoden vermittelt werden. Die zu vermittelnde Inhalte bestimmten die Methodenwahl (Bolten, 2020).

Die konstruktivistische Einsicht, dass Lernstoff nicht ohne weiteres transferierbar ist, platziert den Lernenden in den Mittelpunkt des Lerngeschehens. Jeder Versuch, die hoch vernetzten Zusammenhänge des Lernbegleiters oder der Lernbegleiterin zu transplantieren, ist aufgrund der höchst unterschiedlichen Voraussetzungen bezüglich Vorwissens, Lernerfahrung und Sozialisierung zum Scheitern vorverurteilt. Von dem Ausgangspunkt, dass Lernende selbstreferenziell und selbst or¬ganisiert lernen, folgt die Erkenntnis, dass Lehre und ihre Didaktik auf das Ermöglichen dieser Lernprozesse ausgerichtet sein sollten.

Unbestritten sind instruktive/distributive Lehr- und Lernphasen zur Ermöglichung des Aufbaus von kognitiven Strukturen im deklarativen Wissensbereich notwendig – sie sind aber nicht hinreichend, um vom Wissen zum Können zu kommen und dieses in Lebens- und/oder Berufssituationen einzubetten. Daher sollten Phasen des Austauschs unter den Lernenden, von Lernenden und Lehrenden und von zielgesteuerten Teamprozessen in den Lernprozess integriert werden. Dies würde den sozial-interaktionistischen Anspruch konstruktivistischen Lehrens und Lernens erfüllen. Der Mensch als primär soziales Wesen lernt, vertieft durch die Sprache (Kommunikation), durch Erläutern und wechselseitiges Unterstützen im Lernprozess (interaktiv). Er erfährt sich erst in Gesellschaft bzw. im Austausch mit anderen selbst und bestimmt und entfaltet sich über soziale Interaktion. Insbesondere über kollaborative Methoden wird das Erfahren und Lernen besonders gefördert und unterstützt.

Abbildung: Lehrenden- und/oder lernendenzentrierte Ausrichtung der Methode

Lehrenden- und/oder lernendenzentrierte Ausrichtung der Methode

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Das Lehr- und Lernziel interkulturelle Kompetenz als Transferkompetenz ist durch die Kombination der Methoden zur Anregung eines ganzheitlichen Lernens (kognitive, affektive und konative Lernziele) möglich, bleibt aber dennoch ein lebenslanger Lernprozess.


Zuletzt geändert: Donnerstag, 13. Juni 2024, 16:58