Interkulturelles Lernen und insbesondere die "Interkulturelle Kompetenz" gilt als sogenannte Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhundert (Deardorff, 2006; Lüsebrink 2008a). Was unter interkultureller Kompetenz und vor allem unter Kompetenz verstanden wird, variiert von Wissenschaftsdisziplin zu Wissenschaftsdisziplin. Unser Zugang zum Begriff Kompetenz erfolgt über die Etymologie, die uns Einblicke in die Wortherkunft und -bedeutung vermittelt. Der Begriff Kompetenz ist eine Entlehnung aus dem lat. „competentia“ was Zusammentreffen, Symmetrie, Analogie wie auch Zugehörigkeit und Zuständigkeit bedeutet. Die Verwendung des Substantivs im Lateinischen und im Deutschen folgen denen des lateinischen Verbs "competere", zusammentreffen, zusammenbringen (Pfeifer, 1993). Es geht bei Kompetenz demnach darum, etwas zusammenzubringen. Im Wesentlichen werden drei Bereiche zusammengebracht, wenn es um kompetentes Handeln geht. Diese drei Bereiche umfassen das Wissen (kognitive Ebene), die Einstellung (affektive Ebene) und die Fähigkeiten/Fertigkeiten/Verhalten (konative Ebene). Alle drei Bereiche werden immer in Bezug auf vier Teilkompetenzen zusammengebracht: Die Selbstkompetenz auch als Persönlichkeitskompetenz bezeichnet, die Methodenkompetenz, die Sozialkompetenz und die Fach-beziehungsweise Sachkompetenz.
- Methodenkompetenz: Die Methodenkompetenz kann als Könnenskomponente bezeichnet werden. Sie ist notwendig, um sich Wissen anzueignen und mit diesem adäquat umzugehen. Problemlösungen müssen geplant, Mittel zur Ausführung bereitgestellt, Lösungswege erarbeitet und Ergebnisse reflektiert werden. Methoden helfen, Wissen zu strukturieren, zu ordnen, es zu vernetzen und damit vom Wissen zum Handeln zu kommen. Es schließt die Fähigkeit ein, das Lernen zu lernen, Lernprozesse selbstständig und selbsttätig voranzubringen.
- Sozialkompetenz: Handeln findet immer in einem sozialen Raum, meist in Interaktion mit anderen statt. Handeln ist Handeln zwischen Menschen. Sozialkompetenz meint nun, sich in diese Interaktionen einzubringen, darin ein Gleichgewicht zustande zu bringen, bzw. herzustellen, aber auch die Ich-Identität zu bewahren. Die Fähigkeiten, sich auf andere einzulassen, Aufgaben in Rollen und Gruppen zu übernehmen, andere gelten zu lassen, sich aber auch mal durchzusetzen sind zentrale Aspekte der Sozialkompetenz.
- Fach- beziehungsweise Sachkompetenz: Der professionelle Handelnde muss über entsprechendes Fachwissen verfügen, damit er die notwendige Voraussetzung aufweist, in entsprechenden Bereichen urteils- und handlungsfähig zu sein. Um diese Kompetenz zu erwerben, benötigt man umfassendes Wissen und die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen. Dieses Wissen muss auch bewertet und reflektiert werden. (Bolten, 2007a, S. 86ff.)
Die Einteilung in diese Teilkompetenzen geht auf Roth (1971) zurück und stellt bis heute einen wichtigen Orientierungsrahmen für die Entwicklung von Bildungsplänen dar.
Handlungskompetenz-Modell
Quelle: In Anlehnung an Bolten, 2007a, S. 27f.
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Das theoretische Konstrukt "Kompetenz" setzt sich aus einer variablen Anzahl von Komponenten und Konstituenten zusammen, die jeweils ziemlich komplexe Merkmale, Eigenschaften, Wissensbestände oder Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person bezeichnen, die in situationsangepasster Weise zum Tragen kommen und das Handeln leiten können. Die Kompetenzbereiche Selbst-, Methoden-, Sozial- und Fachkompetenz sind – im Sinne des competere – nicht trennscharf abgrenzbar und stehen demnach in einem wechselseitigen Zusammenhang. Alle Kompetenzbereiche gehen ineinander über und spielen eine Rolle, wenn wir handeln. Sie fließen nur in unterschiedlichem Ausmaß in unser Handeln ein und konstituieren auf diese Weise Handlungskompetenz (Bolten, 2012, S. 166).
Interkulturelle Kompetenz entsteht in einem interdependenten Verhältnis zwischen kognitiven, affektiven und konativen Kompetenzen und ist daher ein synergetisches Produkt eines permanenten Wechselspiels der genannten Teilkompetenzen. Es wird lerntheoretisch angenommen, dass eine Folge von Prozessen auf den Ebenen Einstellung, Wissen und Verhalten durchlaufen werden und eine Fortentwicklung interkultureller Kompetenzentwicklung im Sinne einer Spirale erfolgt (Deardorff, 2006, S. 21).
Lernspirale Interkultureller Kompetenz
Quelle: In Anlehnung an Deardorffs Modell Interkultureller Kompetenz, Deardorff, 2006, S. 21.
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Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist demnach komplex, mehrdimensional und je nach interkultureller Situation vielgestaltig. Für den Erwerb interkultureller Kompetenz bedeutet dies einen fortwährenden dynamischen Prozess entlang der vier Dimensionen:
- Haltungen und Einstellungen
- Handlungskompetenz
- Interne Wirkung: Reflexionskompetenz und
- Externe Wirkung: Konstruktive Interaktion
Dieser Prozess verläuft spiralförmig und je mehr Dimensionen erreicht und je öfter sie durchlaufen werden, umso höher der Grad an interkultureller Kompetenz.
Dieses Prozessmodell interkultureller Kompetenz berücksichtigt sowohl persönliche als auch interpersonelle Ebenen (interkultureller Interaktionen), oder wie Jürgen Bolten es ausdrückt:
"Jemand handelt in einer Situation nicht nur ‚aus sich selbst heraus‘, sondern auch als Resultat der Interaktionsbeziehungen mit seinen Co-Akteuren. Diese Wechselseitigkeit generiert eine Eigendynamik der Situation [...]" (Bolten, 2016a, S. 26).
Folgt man diesem Ansatz (vgl. Deardorff 2006; Rathje 2006; Bolten 2007a) bezüglich der Prozessorientierung interkultureller Kompetenz und den lerntheoretischen Erkenntnissen, handelt es sich bei interkultureller Kompetenz um ein synergetisches Resultat der Interdependenzverhältnisse der vier Teilkompetenzen, resultierend aus kontextbezogenen Lernprozessen auf den Ebenen Einstellung, Wissen und Verhalten. Kontextbezogene Lernprozesse deuten auf eine Dynamik in Interaktionssituation, dessen Verlauf und Ergebnis nicht vorhersehbar ist.
Interkulturelle Kompetenz ist also ein Multikonstrukt, welches aus einem Zusammenspiel der Teilkompetenzen und der Dimensionen als Lernprozess verstanden werden muss. Der Prozess- und Lerncharakter interkultureller Kompetenz lässt die Annahme zu, dass es nicht DIE interkulturelle Kompetenz gibt, die in jeder interkulturellen Situation die gleiche ist, sondern je nach Kontext und Situation eine flexible Anwendung und ein Lernen erfolgt.
Da die beschriebenen Merkmale interkultureller Kompetenz sich in die der allgemeinen Kompetenzmodelle einordnen lassen, lässt sich daraus schlussfolgern, dass es sich bei interkultureller Kompetenz um keine reine Sozialkompetenz (soft skills) oder gar eine eigenständige Kompetenz handeln kann, im Sinne eines fünften Teilbereichs von Handlungskompetenz. Der Begriff "Kompetenz" beinhaltet die erwarteten Fähigkeiten des Transferierens und er bezieht diese Transferfähigkeit auf interkulturelle Interaktionssituationen (Bolten 2015, S. 193f.).
Interkulturelle Handlungskompetenz als Transferkompetenz
Quelle: Bolten, 2015, S. 193. Grafik nachgebaut von Vera Harder.
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Der Unterschied zwischen der allgemeinen Handlungskompetenz und der interkulturellen Handlungskompetenz liegt in den Herausforderungen: die Handlungssituation ist durch einen erhöhten Grad der Handlungsunsicherheit gekennzeichnet (ebd.).
Was genau mit Handlungsunsicherheit bezeichnet wird verstehen wir, wenn wir uns unserem Interkulturalitätsverständnis widmen. Wenn es um interkulturelle Kompetenz geht, geht es immer um eine wie auch immer geartete Kompetenz zwischen Kulturen.
Unser Interkulturverständnis basiert auf einem Differenzparadigma. Dieser Ansatz unterstreicht die Tatsache, dass Menschen Zugehörigkeiten zu verschiedenen Gruppen (Kollektiven) haben, mit denen sie sich mehr oder weniger stark identifizieren können. Die Grenzen von einer Kultur (als soziale Praxis) zur anderen werden als unscharf und damit als nicht klar abgrenzbar und eindeutig definierbar beschrieben. Kultur wird hier vor allem über zwischenmenschliche Beziehungen und über das konventionalisierte Miteinander, über die soziale Praxis – also alles, was in einer Gruppe von Menschen als normal, relevant und plausibel erachtet wird – definiert. Kultur als soziale Praxis existiert demnach innerhalb menschlicher Kollektive (Lebenswelten). Der Begriff des Kollektivs schließt vom Wirtschaftsunternehmen über den Sportverein bis hin zum Nationalstaat alle unterscheidbaren Gruppen ein. Der offene Kulturbegriff erfasst die Veränderungsdynamik innerhalb von Kulturen und begreift Kultur als Prozess.
Die Mitglieder eines Kollektivs zeichnen sich durch Differenz (Heterogenität) aus. Folglich können Kollektive nicht als Einheit (homogen und kohärent) aufgefasst werden. Die gleichzeitigen Zugehörigkeiten spiegeln sich in den vielfältigen Gewohnheitsrepertoires und Deutungsmöglichkeiten der Individuen wider.
In jeder Interaktion stehen sich unserem Ansatz zufolge Individuen gegenüber, die über zahlreiche Gruppenzugehörigkeiten (Kollektivmitgliedschaften) verfügen, die sie kulturell beeinflussen. Da Individuen über zahlreiche Zugehörigkeiten verfügen und dies überwiegend kein Problem darstellt bzw. nicht auffällt, scheinen sie in der Lage zu sein, mit diesen teilweise widersprüchlichen Zugehörigkeiten im Alltag umzugehen. Die alltägliche Interaktion ist demnach durch die Verarbeitung von Differenz geprägt. Differenz ist somit kein Problem, sondern eher Normalität.
Interkulturalität wird diesem Ansatz nach als die mangelnde Bekanntheit des jeweiligen Differenzspektrums (Multikollektivität) der Interaktionspartner verstanden und fokussiert auf den Prozess zwischen Interaktionspartnern. Rathje (2018) verwendet für Interkulturalität im Sinne der mangelnden Bekanntheit des jeweiligen Differenzspektrums die Missing-Link-Metapher. Aus dieser Perspektive erweist sich als neue Herausforderung das Fehlen von Vertrautheit, eines Zusammengehörigkeitsgefühls und von Gewohnheiten.
Nun wird der Unterschied zwischen der allgemeinen Handlungskompetenz und der interkulturellen Handlungskompetenz als Herausforderung durch einen erhöhten Grad der Handlungsunsicherheit deutlich. Aufgrund von fehlender Vertrautheit, eines fehlenden Zusammengehörigkeitsgefühls und von fehlenden gemeinsamen Gewohnheiten wird die Interaktion als interkulturell erfahren und der Grad an Handlungsunsicherheit steigt. Die "Missing-Link"-Metapher verweist jedoch auch darauf, dass aus unbekannter Differenz bekannte Differenz werden kann. Auch wenn die Individuen im Verlauf des Interaktionsprozesses auf unterschiedliche kulturelle Erfahrungen zurückgreifen, können in diesem Aushandlungsprozess neue Normalitäts- und Plausibilitätsregeln konstruiert werden. Im Ergebnis entsteht dann keine Interkulturalität, sondern Kulturalität. Interkulturalität und Kulturalität verlieren vor diesem Hintergrund an Trennschärfe.
Interkulturalität und Kulturproduktion
Quelle: In Anlehnung an Rathje, 2018, S. 9.
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Interkulturalität ist somit keine objektive Tatsache, sondern ein kontextabhängiges Gefühl (fehlende Vertrautheit, Normalität, Plausibilität, Sinnhaftigkeit, kein Routinehandeln möglich). Interkulturalität kann durch den Fokus auf gemeinsame Zugehörigkeit in Normalität umgewandelt werden.
Entscheidend für den Verlauf interkulturellen Handelns ist dementsprechend die Frage, inwieweit es gelingt, gemeinsame Handlungskontexte zu schaffen, ohne dass Akzeptanzgrenzen der Beteiligten überschritten werden. Und das bringt uns zurück zu unserem Ansatz der interkulturellen Kompetenz vor dem Hintergrund unseres oben erläuterten Kultur- und Interkulturverständnisses.
Interkulturalität als Unbestimmtheitserfahrung bedeutet ein subjektiver Mangel an Relevanz, Plausibilität, "Normalität", was wiederum dazu führt, dass keine Routinehandlungen möglich sind. Interkulturelle Kompetenz als Transferkompetenz trägt dazu bei, diese Unbestimmtheit als Herausforderung (nicht als Bedrohung) wahrzunehmen. Und dies gelingt insbesondere über Akzeptanz von Mehrwertigkeit, Unvertrautheit und Unsicherheit. Dies wiederum führt bei den Akteuren zur Öffnung gegenüber Unbekanntem und trägt ebenfalls dazu bei, dass Vielfalt und Ambiguität zugelassen werden, mit der Konsequenz der Flexibilitätsbereitschaft. Die Herausforderung des Miteinanders besteht darin, Bedingungen einer gemeinsamen Normalität auszuhandeln: Interkulturelle Kompetenz heißt in dieser Situation beziehungsreflexiv handeln und kontextangemessen entscheiden zu können, wie viel Bestimmtheit (Struktur) für die in einem konkreten Handlungskontext Beteiligten jeweils nötig und wie viel Unbestimmtheit / Öffnung (Prozessdynamik) möglich ist, um ein Miteinander konstruktiv und nachhaltig gestalten zu können (Bolten, 2020). Aufgrund der hohen Kontextabhängigkeit kann nicht vorausgesagt werden, ob Kontext bezogen Sicherheit oder Unsicherheit gegeben sein wird. So kann auch nicht bestimmt werden, wann Interkulturelle Kompetenz anfängt. Es ist eine Einzelfallentscheidung, ob Transferkompetenz notwendig ist. Interkulturelle Kompetenz kann daher nicht absolut beschrieben oder gemessen werden.
Interkulturell kompetente Personen sind diesem Ansatz zu Folge in der Lage, in Situationen kompetent zu handeln, die einem erst einmal nicht normal (im Sinne von Schütz/Luckmanns Lebensweltbegriff) vorkommen, die einem nicht vertraut oder wenig vertraut sind. Interkulturelle Kompetenz als Transferkompetenz ist zur Herstellung von Handlungskompetenz immer dann gefordert, wenn Unsicherheit in einem mehr oder weniger unvertrauten Handlungskontext entsteht. Interkulturelle Kompetenz ist damit zugleich Vertrautheit im Umgang mit Unvertrautheit (ebd, S. 33).
Interkulturelle Handlungs- und Transferkompetenz
Quelle: Bolten, 2016a, S. 34. Grafik nachgebaut von Vera Harder.
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