Das Verständnis von Kultur als Lebenswelt (erweitertes Kulturverständnis) hat zwei verschiedene Varianten hervorgebracht: den geschlossenen Kulturbegriff und den offenen Kulturbegriff. Der geschlossene Kulturbegriff geht davon aus, dass Menschen innerhalb einer Lebenswelt die gleichen oder sehr ähnliche Eigenschaften aufweisen und Kulturen dadurch klar abgrenzbar und definierbar sind. Diese Sichtweise wird auch als Homogenitätsprämisse oder Container-Denken bezeichnet. Der offene Kulturbegriff hingegen ist eine Abkehr von der Vorstellung, dass Kulturen stabile und homogene Container seien.
Wenn wir Kulturen als geschlossene oder containerähnliche Gebilde begreifen, dann stoßen wir selbstverständlich auf eine Reihe von Widersprüchen. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo versucht wird, im Sinne einer binären Logik (z.B. "richtig/falsch"; "entweder/oder") klar zu definieren, was zu einer Kultur gehört und was nicht. Ein typisches Beispiel für eine solche Denkweise ist die Bezeichnung der Deutschen als Kaffeetrinker und Kaffeetrinkerinnen oder die Verknüpfung des „Fünf-Uhr nachmittags-Tees“ mit den Briten.
Aus pragmatischer Sicht ist ein in diesem Sinne geschlossener Kulturbegriff zwar hilfreich, weil er Komplexität reduziert und mit vereinfachten Typisierungen erste Orientierungen im Hinblick auf kulturelle Lebenswelten jeder Art ermöglicht. Dennoch sind Abgrenzungen problematisch, da aufgrund von Jahrtausenden währenden Migrationsbewegungen und Kommunikationsprozessen "kein Lebensraum als homogene, von äußeren Einflüssen unbeeinflusste Kultur denkbar ist" (Said, 1996).
Nehmen wir als Beispiel die Sprache. Heute gibt es etwa 30.000 deutschsprachige Namibier. Einige von ihnen sind deutscher Abstammung und ihre Familiengeschichte reicht bis in die Zeit zurück, als Namibia Ende des 19. Jahrhunderts eine deutsche Kolonie war. Andere sind erst in jüngerer Zeit nach Namibia eingewandert und wieder andere sind in Namibia geboren, aber in der ehemaligen DDR aufgewachsen und ausgebildet worden und haben dadurch die deutsche Sprache nach Namibia gebracht. Sie als eine homogene Gruppe zu betrachten, würde ihrer Identität nicht gerecht werden.
Daher ist es nicht erstaunlich, dass seit Mitte der 1990er Jahre der Container-Ansatz von Kultur zunehmend kritisiert und das Container-Denken abgelehnt wird. Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem die Vorstellung, Kultur sei gleichbedeutend mit Nationalstaat, eine Denkweise, die in den geschlossenen Varianten des erweiterten Kulturbegriffs immer noch dominiert. Vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen erweisen sich jedoch homogene Vorstellungen, dass Menschen innerhalb einer Gruppe (Lebenswelt) grundsätzlich die gleichen oder sehr ähnliche Merkmale aufweisen, als zunehmend unhaltbar. Nationalstaatliche Kulturkonstruktionen verleiten zu Verallgemeinerungen, die Stereotypen Vorschub leisten, wie das folgende Beispiel zeigt:
Aufgabe: Effizient sein
Lesen Sie den kurzen Auszug und überlegen Sie, wo die Autorin tatsächlich verallgemeinert.
Als Niederländerin bin ich bestrebt, so effizient wie möglich zu arbeiten und daher so wenig Zeit wie möglich bei der Arbeit zu verbringen. Da die Menschen hier in Indien viel Zeit verschwenden, indem sie beispielsweise nicht pünktlich zu Besprechungen erscheinen oder überhaupt nicht zu Besprechungen kommen oder nicht auf Kalenderanfragen reagieren, hatte ich das Gefühl, ständig Zeit zu verschwenden, und konnte daher nicht effizient arbeiten. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Minuten und Stunden ich nur mit Warten verbracht habe, was mich einfach wahnsinnig gemacht hat.
Quelle: Riehl, Cosima, 2019. Synergiearbeit in internationalen Teams – die Erfahrungen von Europäern in Indien. Unveröffentlichte MA-Thesis, HAW Hamburg
Die Autorin suggeriert hier, dass Niederländerin zu sein bedeutet, so effizient wie möglich zu arbeiten. Das induziert, dass alle Niederländerinnen, im Gegensatz zu Menschen in Indien, dieses Ziel verfolgen. Sie generalisiert nicht nur die Niederländerinnen und Niederländer, sondern auch die Inder und Inderinnen, indem sie sagt, dass sie unpünktlich sind und nicht auf Terminwünsche reagieren. Damit verdeutlicht sie ein „Entweder-Oder“-Denken, mit der Betonung auf "die" und "wir". Ein solch undifferenziertes Containerdenken eröffnet weder die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten, noch das ihrer Kollegen und Kolleginnen zu verstehen, geschweige denn einen Konsens und eine gemeinsame Verständnisbasis zu finden.
Im Gegensatz dazu steht das offene Verständnis von Kultur für eine multirelationale Denkweise. Nach diesem Verständnis sind alle Menschen eingebettet in verschiedene Gemeinschaften oder Kollektive, und die nationalkulturellen Zugehörigkeiten sind lediglich eine neben zahlreichen anderen. Diesem Verständnis zufolge ist eine Vielzahl anderer Kollektive, einschließlich jener im Zusammenhang mit Beruf, Alter, Geschlecht, sozialem oder Bildungsstatus, Vereinszugehörigkeit und Familie relevant und beeinflussen unsere Werte (was als gut, schlecht, erstrebenswert oder zu vermeiden angesehen wird), unser Verhalten und unsere Denkweise.
Der Ansatz eines offenen Kulturbegriffs trägt der Tatsache Rechnung, dass jede Person nicht nur vielfältige Zugehörigkeiten zu vielen verschiedenen und durchaus auch räumlich verstreuter Lebenswelten bzw. Kollektiven hat (z.B. Familien, Berufswelten und Religionen). Der Ansatz bringt auch zum Ausdruck, dass zwischen den Akteuren und ihren Lebenswelten wechselseitige Beziehungen bestehen (multirelational), die unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Grenzen zwischen den Kollektiven sind nicht trennscharf, sondern nebulös und vage und werden daher als „fuzzy“ bezeichnet (Bolten, 2013). Aus dieser Perspektive ist der kulturelle Einfluss auf die Lebenswelt einer Person durch den stetigen Wandel einer komplexen und einzigartigen Zusammensetzung von Kollektiven bedingt, denen sich die Person zugehörig fühlt oder von denen, die sie umgeben.
Ein solches Verständnis von Kultur hätte die Person aus den Niederlanden in unserem vorherigen Beispiel erkennen lassen, dass sie eine Reihe von kollektiven Zugehörigkeiten mit ihren Kolleginnen und Kollegen teilt, wie beispielsweise die Unternehmenszugehörigkeit, oder den Beruf, und dass diese Zugehörigkeiten das Verhalten mehr oder weniger stark beeinflussen können. Es könnte beispielsweise die Vorschrift der Gleitzeit im Unternehmen geben, woraus folgen könnte, dass einige früher ins Büro kommen, andere hingegen später. Ob das verspätete Erscheinen zu einer Besprechung oder das Nicht-Erscheinen im Zusammenhang mit "Inder" sein steht, wie es die niederländische Kollegin formuliert, ist ebenso fraglich wie die Aussage, dass "alle Inder" durch ihr Zuspätkommen viel Zeit verschwenden.
Dieses Beispiel macht einmal mehr deutlich, dass die nationalkulturelle Zugehörigkeit nur eine von vielen Kollektivzugehörigkeiten ist, die eine Person in ihrem Handeln beeinflusst. Kulturen sollten daher nicht als scharf abgegrenzte Akteursfelder, sondern vielmehr in Bezug auf ihre Verbindungen zu anderen Kulturen und Kollektiven erfasst werden. Auf diese Weise verschwimmen Grenzen zwischen Kollektiven oder werden unscharf (Bolten, 2013) und die Zugehörigkeiten zu verschiedenen Kollektiven werden als Beziehungsnetzwerke einer Person sichtbar.
Die folgende Grafik zeigt den engen und den erweiterten Kulturbegriff sowie das geschlossene und das offene Verständnis von Kultur:
Quelle: Bolten, Jürgen (2015, S. 46), angepasst und ergänzt
Aufgabe: Fall "Woher kommst du?"
Beibei ist Studienanfängerin an einer Universität und nimmt an einem Online-Treffen mit Lehrenden und Kommilitonen und Kommilitoninnen teil. Sie stellt sich den Lehrenden vor, woraufhin sie ein Dozent wie folgt anspricht: „es freut mich, Dich kennenzulernen. Woher kommst Du?“ Beibei antwortet: "Aus Leer", einer Stadt im hohen Norden Deutschlands, was den Dozenten zu der Frage veranlasst: "Aber woher kommst du wirklich?". „Aus Ostfriesland", antwortet sie und verweist auf die Region im Norden Deutschlands. Und in der Tat ist dies die Region, in der Beibei geboren wurde.
Verwenden Sie das geschlossene und das offene Kulturkonzept, um die im Fall geschilderte Verwirrung und das Missverständnis zu erklären. Überlegen Sie dabei: Was deutet darauf hin, dass die Frage des Dozenten einem "Container"-Denken und demnach einem geschlossenen Kulturverständnis entspringt? Notieren Sie Ihre Antworten in Ihrem Learning Journal.
Die Tatsache, dass es, in Abhängigkeit von der persönlichen Sichtweise, ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Herkunft einer Person geben oder dass jemand sehr unterschiedliche Rollen einnehmen kann, erschwert eine eindeutige kulturelle Zuordnung. Daher entspricht eine unscharfe Definition kultureller Zugehörigkeiten eher der Lebenswirklichkeit der Menschen: So kann man einen bestimmten Beruf ausüben, aber gleichzeitig in zahlreichen anderen Rollen und Kollektiven eingebunden sein, sei es innerhalb der Familie oder aufgrund von Freundschaften, Freizeit oder virtuellen Beziehungen. Die Multikollektivität im Sinne der vielfältigen Zugehörigkeiten von Personen zu Gruppen wurde von Hansen (2009) eingeführt und entspricht Boltens Auffassung multirelationaler Netzwerke, welches auf die Beziehungen zwischen Akteuren fokussiert (Bolten, 2014).
Das offene Kulturverständnis hat den Vorteil, dass es die Veränderungen innerhalb von Kulturen und ihre Dynamik erfasst. Diesem Verständnis zufolge ist Kultur vielfältig, unscharf, heterogen und kohäsiv. Bolten (2015) beschreibt diese Perspektive als eine „Entweder-Oder- UND Sowohl-als-auch“- Perspektive. Aus dieser Sicht ist die Konstruktion von etwas Eigenem und etwas Fremdem im Sinne einer Ab- bzw. Ausgrenzung nicht mehr haltbar. Das "Entweder-Oder"-Denken basiert auf kultureller Homogenität und bedarf einer Ergänzung durch das "Sowohl-als-auch"- Denken, welches auf einem "unscharfen" Verständnis von Kultur basiert. Um auf den Fall Beibei zurückzukommen: Nur weil etwas auf einen asiatischen Bezug (Name, Aussehen etc.) hinzudeuten scheint, bedeutet dies nicht, dass Beibei nicht Deutsche sein kann, was einem Entweder-Oder-Denken entspringen würde. Die Sowohl-als-auch-Perspektive eröffnet ihr die Möglichkeit, sich unter anderem sowohl mit einer deutschen als auch asiatischen Lebenswelt zu identifizieren, wenn dies ihrem Zugehörigkeitsgefühl entspricht. Die Lebenswelt ist eine uns vertraute Welt und gibt den alltäglichen Handlungen Sinn und Bedeutung. Für das Individuum ist dann etwas bedeutsam, wenn es durch Relevanz, Plausibilität und Normalität gekennzeichnet ist und Routinehandlungen ermöglicht (vgl. Schütz & Luckmann, 1979, S. 30).
Wenn wir Kultur im Kontext der heutigen Globalisierungsprozesse betrachten, so lässt sich deutlich beobachten, dass sich wirtschaftliche, technologische, politische sowie berufliche und persönliche Netzwerke über nationale Grenzen hinweg entwickelt haben. Diesen lebensweltlichen Realitäten wird das Kulturverständnis, das Kultur als kohäsiv verbundene Kollektive, bestehend aus einer Vielzahl von offenen Systemen und offenen Netzwerken (Hansen, 2009; Rathje, 2009; Bolten, 2014) versteht eher gerecht, als es kohärente Homogenitätskonstruktionen vermögen.
Kultur aus einer „entweder/oder“- UND „sowohl/als auch“-Perspektive des offenen Kulturbegriffs entsprechend zu begreifen, ermöglicht es uns, Beibeis Zugehörigkeitsgefühl aus einer multikollektiven und multirelationalen Perspektive zu betrachten. Sie identifiziert Leer als ihre Heimatstadt und fühlt sich mit ihr verbunden. Ihr Name könnte darauf hindeuten, dass sie oder ihre Familie sich anderen Dach-Kollektiven zugehörig fühlen, welches China sein könnte oder auch nicht. Ausgehend von dieser Annahme, könnte die Antwort auf die Frage "Woher kommst du?" ein entweder/oder UND ein sowohl/als auch sein, je nach ihrem Selbstverständnis. In unserem Fall war sie offensichtlich der Auffassung, dass ihre Antwort in diesem speziellen Kontext am zutreffendsten ist.
Aufgabe: Finden Sie Ihr eigenes Beispiel
Überlegen Sie sich ein Beispiel, bei dem eine "entweder/oder"- und "sowohl/als auch"-Perspektive eine differenziertere Sichtweise hätte unterstützen können, und notieren Sie dies in Ihrem Learning Journal.
Kultur als ein offenes, sich ständig veränderndes Konstrukt aufzufassen, unterstreicht den wissensbasierten und prozessualen Charakter von Kultur. Eine solche Sichtweise geht davon aus, dass Kultur etwas Dynamisches ist, das sich einer Reihe von Praktiken zur Herstellung sozialer Realität bedient. Eine solche prozessorientierte Sichtweise von Kultur steht in Zusammenhang mit dem Verständnis von Kultur als Wissen. Wir eignen uns Wissen an, indem wir in unserem Umfeld übliche Handlungsweisen erlernen (Konventionen: Art und Weise, wie Dinge getan werden) und dabei allmählich ein Gefühl der Vertrautheit entsteht. Auf diese Weise vollzieht sich während des Lern- und Sinnbildungsprozesses ein allmählicher Übergang vom "Unvertrauten" zum "Vertrauten". Für ein Individuum ist etwas dann sinnvoll, wenn es durch Relevanz und Normalität gekennzeichnet ist und routiniertes Handeln ermöglicht (vgl. Schütz & Luckmann, 1979, S.30).
Während längerer Auslandsaufenthalte finden häufig Veränderungsprozess von "Unvertrautem" zu "Vertrautem" statt, zum Beispiel wenn sogenannte Expatriates, Fachkräfte von ihren Unternehmen für einige Jahre in ein anderes Land geschickt werden. Alberto war ein Expatriate und arbeitete mehrere Jahre für sein Unternehmen als Manager in den Niederlanden. Nach einiger Zeit im Ausland stellte er fest, dass die Art und Weise, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten sprechen, manchmal etwas direkter war, als er es von zu Hause gewohnt war. Daran musste er sich erst gewöhnen. Da ihm mit der Zeit die direktere Ansprache so vertraut war, dass er selbst viel offener und direkter mit seinem Vorgesetzten sprach, fehlte sie ihm sogar, als er nach Italien zurückkehrte. Personen, die ihren Arbeitgeber oder ihre Arbeitgeberin wechseln, können dieselbe oder ähnliche Erfahrungen machen, auch wenn sie sich räumlich gar nicht weit wegbewegen. So könnten die Kommunikation und die Art der Zusammenarbeit in einem Start-up-Unternehmen eine andere sein als beispielsweise in einer großen Versicherungsgesellschaft. Bei einem Unternehmenswechsel würde auch hier ein Anpassungsprozess stattfinden.
Dieser Prozess, die Transformation von „Unvertrautem“ in „Vertrautes“, bewirkt kulturellen Zusammenhalt, weshalb Kultur auch als der Klebstoff, der die Menschen verbindet, betrachtet werden kann. Vertrautheit entsteht durch gemeinsam geteiltes Wissen, Verhaltensweisen und geteilte Sinnhaftigkeit.
Bisher haben wir uns mit kulturellem Lernen und kultureller Veränderung als Prozess beschäftigt. Wenn uns Situationen und Verhaltensweisen vertrauter werden und sich Routinen entwickeln, entstehen festere Strukturen, an denen wir unser Handeln zukünftig orientieren können. Dies kann als Konventionalisierung sozialer Praktiken bezeichnet werden (Rathje, 2009). Im Sinne des Sowohl-als-auch (siehe oben) ist also nicht nur der Prozess von Bedeutung, sondern auch die Struktur. Wir können also die verschiedenen Kulturperspektiven entlang eines Kontinuums von Kultur als Struktur und Kultur als Prozess beschreiben (Bolten, 2013). Keine Perspektive sollte daher in einem ausschließlich binären Sinne entweder der Struktur oder dem Prozess zugeordnet, sondern vielmehr in einer Bewegung (Gradient) zwischen den beiden Polen verortet werden, wie in der nachfolgenden Abbildung gezeigt werden soll.
Quelle: Bolten, Jürgen (2015, S. 46), angepasst und ergänzt. Bildquelle: Pixabay. Pixabay License
In einer komplexen und globalisierten Welt unterstützt ein offenes und damit prozesshaftes Verständnis von Kultur das gegenseitige Verstehen und die Suche nach Gemeinsamkeiten. Um dies zu erreichen, müssen wir die Individuen und ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen oder Kollektiven genauer betrachten. Damit nehmen wir eine Mikroperspektive ein, die auch notwendig ist, um mehr über andere Personen zu erfahren und eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen zu können. Dies ist ganz besonders wichtig, wenn wir eine zwischenmenschliche Beziehung ohne Rückgriff auf vorgefasste Kategorien und Stereotypisierungen aufbauen wollen. Eine Mikroperspektive ermöglicht es uns, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede beispielsweise in der Kommunikation, der Arbeitsweise, in Bezug auf Fachwissen, Berufserfahrung und Vorlieben zu erkennen. Hansen (2009) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die kulturellen Zugehörigkeiten eines Individuums aufgrund zunehmender Mobilität, Migration und moderner Kommunikationstechnologien einerseits komplexer, andererseits aber auch ähnlicher werden. Beispielsweise ist es heutzutage viel einfacher unabhängig vom geografischen Standort die gleichen Musikvorlieben zu entwickeln und zu teilen, als dies noch vor 50 Jahren der Fall war. Auch ist es wahrscheinlicher, auf Personen zu treffen, die sich zwar im Aussehen von uns unterscheiden mögen, mit denen wir aber beispielsweise eine Sprache, einen Bildungshintergrund und sportliche Vorlieben teilen.
Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass sich unsere Möglichkeiten der kulturellen Verortung und der Identifikation immer weiter auffächern. Hsueh-Hua Chen (2014) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass in einer globalisierten Welt die Zahl interkultureller Begegnungen ständig wächst und dadurch kulturelle Identitäten durch kommunikative Praktiken ständig erzeugt, ausgehandelt, aufrechterhalten und in Frage gestellt werden. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass Personen, die ihr Praktikum in Spanien absolviert haben nach ihrer Rückkehr Mitglied der spanisch sprechenden Gemeinschaft in ihrer Heimatstadt werden, der sie sich immer stärker verbunden fühlen und mit der sie sich identifizieren. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass aus einer multikollektiven und multirelationalen Perspektive unsere Konstruktion dessen, was zu uns gehört ("Wir"/das Vertraute) und was nicht (die " Anderen"/das Fremde), nicht mehr sinnvoll und der Übergang vom "unbekannten Anderen" zum "vertrauten Anderen" graduell und kontextabhängig ist.
Aufgabe: Die "Fridays for Future"-Bewegung
Lesen Sie den kurzen Auszug und notieren Sie in Ihrem Learning Journal, (1.), zu welchen anderen Kollektiven diejenigen gehören könnten, die die Bewegung "Fridays for Future" unterstützen. (2.) Welche Interessen könnten diese Gruppen an der "Fridays for Future"-Bewegung haben?
"Fridays for Future" zeigt, was in der Ausgestaltung von Kultur möglich ist. Diese Bewegung hat sich zu einer globalen sozialen Bewegung entwickelt, deren Mitglieder sich hinsichtlich klimapolitischer Ziele zusammenschließen. Die Art und Weise, wie sie dieses Ziel erreichen, ist unterschiedlich, je nach Kontext (Land/Region) und den Kollektiven, denen die Mitglieder angehören (Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kapitalismuskritikerinnen und Kritiker, Veganerinnen und Veganer usw.). Das Kollektiv "Fridays for Future" ist kulturell heterogen.
Quelle: Yildirim-Krannig, 2020, S. 61
Die "Fridays for Future"-Bewegung wird offensichtlich nicht von einer in sich geschlossenen, homogenen Gruppe getragen. Aber was könnten Ausdruck und Folgen dieser Vielfalt innerhalb der Gruppe sein? Beispielsweise könnten sich Konflikte innerhalb der Gruppe entwickeln. Während viele von den Jüngeren vielleicht dazu neigen, mit außergewöhnlichen Maßnahmen den extremen Klimaveränderungen entgegenwirken zu wollen, könnten viele von den Älteren auch andere Interessen berücksichtigen, wie z.B. die Gefährdung von Arbeitsplätzen durch eben solche Maßnahmen. Wissenschaftliche Akteure könnten sich hingegen eher in einer beratenden Rolle sehen und in einer stark polarisierenden Debatte, die eher auf der Basis persönlicher Interessen und Gefühle als auf Basis von Fakten geführt wird, leicht frustriert werden. Andererseits ist es möglich, dass diese verschiedenen Gruppen und Akteure unterschiedliche Perspektiven und Stärken einbringen, um den Wandel voranzubringen, den die Bewegung „Fridays for Future“ anstrebt.
Wir sehen, dass "Fridays-for-Future" ein Multikollektiv in ständiger Bewegung ist, dessen Entwicklung schwer vorhersehbar ist und dass innerhalb der Bewegung noch keine eigene Kultur existiert, die die Einbettung der vielen verschiedenen Werte und Interessen ermöglicht.