In Übereinstimmung mit unserem Verständnis von Diversität und Superdiversität ist es sehr wahrscheinlich, dass in jeder beliebigen Situation Menschen aufeinandertreffen, die unterschiedliche Auffassungen zu einer Reihe von Themen haben. Diese unterschiedlichen Auffassungen könnten sich u.a. auf ein unterschiedliches Zugehörigkeits- und Identitätsgefühl sowie auf unterschiedliche Erfahrungen, Wertvorstellungen, Erwartungen und Handlungsfolgen beziehen. Die Weiterentwicklung der Interkulturalitätskonzepte in den letzten Jahrzehnten verdeutlichen dies.

 

Bevor wir fortfahren, bitten wir Sie, über die folgende Frage nachzudenken:

Wann würden Sie eine Begegnung als interkulturell bezeichnen und warum?

Unser Verständnis von Interkulturalität hängt von unserem Kulturverständnis ab. Demnach leitet sich aus unserem Kulturverständnis die Definition von Interkulturalität ab. Es existieren zwei mögliche Zugänge zur Interkulturalität: zum einen über die geschlossene Perspektive und zum anderen über die offene Perspektive von Kultur.

Nach dem Verständnis von Kultur aus einer geschlossenen Perspektive beschreibt Interkulturalität eine Interaktion zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Kultur A und Kultur B. Sie nehmen sich gegenseitig als anders, fremd bzw. als Fremde wahr. Aus dieser Perspektive sind alle Entscheidungen in Interaktionen von der vorherrschenden Annahme einer "nationalen Kultur" oder "Ethnizität" geprägt. Interkulturelle Interaktion wird als Aktion zwischen zwei oder mehr Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen verstanden.

Abbildung: Interkulturelle Interaktion (1)

Quelle: Yildirim-Krannig, Yeliz (2020)

Das "Anderssein" oder "Fremdsein" wird gemeinhin für dysfunktionale Interaktionen und ineffektive Zusammenarbeit verantwortlich gemacht. Dadurch werden Kultur und Interkulturalität aus der Perspektive eines geschlossenen Kulturbegriffs als problematisch wahrgenommen. Eine Ausrichtung an Nationalkulturen in Verbindung mit dem Versuch, leicht vermittelbare Generalisierungen zu finden, ist dabei riskant. Es leistet stereotypen Vorstellungen und Beschreibungen von einem "Nationalcharakter" Vorschub. Beispielsweise leiten sich aus solchen Vorstellungen Stereotype ab wie die Charakterisierung von Franzosen als eitel und von US-Amerikanern als oberflächlich. Solche Generalisierungen können auch eine positive Bedeutung erhalten, wie das folgende Beispiel zeigt, in dem die Niederländer als "gezellig" beschrieben werden:

Was den kulturellen Aspekt betrifft, so gibt es ein Wort, das die niederländische Kultur perfekt beschreibt: 'gezellig'. Direkt übersetzt bedeutet das Wort "gesellig" oder "gemütlich", aber eigentlich gibt es für dieses Wort keine genaue Übersetzung. Die Niederländer verwenden dieses Wort, um alles Positive zu beschreiben. Ein Ort kann 'gezellig' sein, ein Zimmer kann 'gezellig' sein, eine Person kann 'gezellig' sein, ein Abend kann 'gezellig' sein. Bei 'gezellig' oder 'gezelligheid' geht es weniger um ein Wort als vielmehr um ein Gefühl. Es beschreibt die Momente des Glücks, des Zusammenseins und des Teilens geliebter Momente. Ich stelle fest, dass die Niederländer sehr offen und warmherzig sind.

Üblicherweise wird Andersartigkeit oder Fremdheit mit Missverständnissen und dysfunktionalen Begegnungen in Verbindung gebracht und daher für ineffiziente Zusammenarbeit verantwortlich gemacht, wie das folgende Zitat eines Praktikanten zeigt:

Ich erinnere mich, wie Louis mich einmal spät abends anrief und sagte, dass er den Entwurf für das neue Flugblatt "ganz dringend" und "bis morgen früh" brauche. Ich saß dann die ganze Nacht an dem Entwurf, damit er ihn am nächsten Morgen abholen konnte. Am nächsten Tag erschien er jedoch nicht einmal im Büro, und als ich ihn später anrief, um ihm mitzuteilen, dass das Flugblatt fertig sei, sagte er nur, ich solle mich entspannen und warten. Ich war wirklich verärgert und enttäuscht, aber im Nachhinein betrachtet war dies wohl ein Beispiel für ein kulturelles Missverständnis, denn in Peru scheint das Wort Morgen eine größere zeitliche Spanne zu umfassen.

Die wörtliche Auslegung von "dringend" und "bis morgen früh" hat auf Seiten des Praktikanten auf nachvollziehbare Weise zu Enttäuschung und Frustration geführt. Ob dieses Missverständnis jedoch mit dem Verweis auf "die Peruaner" erklärt werden kann, bedarf einer gründlichen Überprüfung. Die Verwendung eines offenen Kulturverständnisses hätte nicht nur diese Annahme (Behauptung) in Frage gestellt, sondern auch Möglichkeiten für einen konstruktiven Umgang mit der Situation eröffnet, da Interkulturalität in der Perspektive des offenen Kulturverständnisses als Aushandlungsprozess verstanden wird.

Aus der Perspektive des offenen Kulturbegriffs, existieren Kulturen schlicht innerhalb menschlicher Kollektive. Da der Begriff "Kollektiv" alle Arten von Gruppen umfasst, die sich aus Individuen zusammensetzen (von Fußballvereinen über Unternehmensorganisationen bis hin zu Nationalstaaten), haben Individuen mehrere Zugehörigkeiten und sind kulturell heterogen. Dieser Ansatz unterscheidet sich von dem geschlossenen "inter-nationalen" Verständnis von Kultur, das ausschließlich "nationale Merkmale" wie im obigen Beispiel berücksichtigt.

Das offene Kulturkonzept versteht Interkulturalität als einen fortlaufenden Aushandlungsprozess (vgl. Bolten 2015). Diese Perspektive ermöglicht einen konstruktiven Zugang zur Analyse und zum Verständnis der Dynamik in interkulturellen Interaktionen. Weshalb dies so ist, werden wir im Folgenden erfahren.

Aus einer offenen Perspektive kann Interkulturalität wie folgt charakterisiert werden:

In einer interkulturellen Begegnung befinden sich Individuen in einer Situation, in der es für sie keine Normalität gibt, sie können keine Plausibilität herstellen und daher sind ihnen Routinehandlungen nicht möglich. Menschen, die sich begegnen, können einander oder das Verhalten des anderen als fremd und ungewohnt wahrnehmen. Dieses Gefühl der Fremdheit kann auf Unterschiede jeglicher Art zurückzuführen sein und sowohl subtile Dinge wie Gestik, Mimik und Sprachgebrauch als auch größere Phänomene wie Traditionen, die Art und Weise, wie mit Problemen umgegangen wird, oder die Art und Weise, wie ein Bildungs- und Wirtschaftssystem aufgebaut ist, umfassen. Unter solchen Umständen ist es normal, dass Menschen die ungewohnte Erfahrung mit ihrem eigenen Verhalten, ihren Erfahrungen und Gewohnheiten vergleichen.

Ich denke, der offensichtlichste und markanteste Unterschied, den ich erlebt habe, ist die Direktheit in Gesprächen. Die deutsche Kultur ist sehr direkt. Konflikte und Probleme werden direkt angesprochen, echte Meinungen werden sofort geäußert und es wird weniger um das Thema herumgeredet. Ich habe die Briten als diskreter erlebt. Für sie ist es sehr wichtig, freundlich zu bleiben. Das Feedback, das man erhält, klingt immer positiv und die negativen Aspekte werden nicht so deutlich erwähnt. Es gab Situationen, in denen meine Kollegen und ich uns über etwas aufgeregt haben, was eine andere Abteilung gesagt oder getan hat, aber sobald wir in der Sitzung saßen, um darüber zu sprechen, haben alle herumgescherzt und das Thema wurde so behandelt, als wäre es ohnehin keine große Sache.

In der geschilderten Situation erlebte die Praktikantin den Kommunikationsstil als ungewohnt, nicht unbedingt als Bedrohung, aber als anders und möglicherweise etwas nervig und fremd. Sie schildert ihre Erfahrung basierend auf der Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe, d.h. mit ihrer nationalen Zugehörigkeit. Dies führt zu Verallgemeinerungen und dazu, zum Beispiel die „Briten“ von den „Deutschen“ abzugrenzen. Das folgende Beispiel zeigt, dass die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden jenseits von Nationalkulturen eine gute Grundlage dafür ist, eine gemeinsame Verständnisbasis zu entwickeln.

Stellen Sie sich zwei Personen vor, nennen wir sie Pedro und Mareike. Pedro ist ein internationaler Student und Mareike kommt aus dem Süden Deutschlands. Beide sind in ihrem ersten Jahr an der Universität, welches gerade begonnen hat. Sie erhalten eine Aufgabe, die sie gemeinsam bearbeiten sollen, und als sie sich zum ersten Mal treffen, stellen sie fest, dass ihre Gemeinsamkeiten (gelber Kreis) darin bestehen, dass sie Kommilitonen sind und sich beide für die gewählten Themen interessieren. Außerdem stellen sie fest, dass sie zu der Gruppe von Personen gehören, deren zweite Sprache Englisch ist (durch die blaue Farbe gekennzeichnet). Als sie sich treffen, um miteinander zu arbeiten, fühlen sie sich zunächst sehr unsicher, denn alles ist neu, sie wissen nicht, was sie erwartet, und sie haben ein wenig Angst, dass die Unterschiede überwiegen könnten, was die Zusammenarbeit erschweren könnte. Da sie nicht dieselbe Muttersprache sprechen, fühlen sie sich auch verschiedenen Gruppen oder Kollektiven zugehörig. Als sie über die Aufgabe sprechen, wird ihnen auch klar, dass sie die Aufgabe anscheinend unterschiedlich verstehen und daher auch unterschiedlich an sie herangehen würden.

Abbildung: Interkulturelle Interaktion (2)

Quelle: Yildirim-Krannig, Yeliz (2020)

Zwei Wochen später sieht die Situation ganz anders aus. Pedro und Mareike fühlen sich nicht nur viel wohler an der Universität, sie haben sich auch schon einige Male getroffen und sich angewöhnt, vor der Arbeit an ihrem Thema kurz über den Kurs zu sprechen. Sie haben auch WhatsApp-Nachrichten ausgetauscht (gekennzeichnet durch den rosa Bereich) und wissen, dass sie sich jederzeit eine Textnachricht schicken können, wenn es ein Problem gibt. Mareike ist Mitglied einer Capoeira-Gruppe (gekennzeichnet durch den grünen Bereich) und hat Pedro gebeten, mitzukommen. Da es ihm sehr gut gefällt, Teil dieser Gruppe zu sein, beschließen sie, gemeinsam dorthin zu gehen (gekennzeichnet durch den grünen Bereich um die beiden).

Abbildung: Interkulturelle Interaktion (3)

Quelle: Yildirim-Krannig, Yeliz (2020)

Der Grad der Fremdheit, den Mareike und Pedro anfangs erlebt haben, war wahrscheinlich nicht extrem. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sie am Anfang einen Mangel an Normalität, Plausibilität erlebten und dadurch nicht routiniert handeln konnten. Wir sehen also, dass es bei jeder neuen Begegnung ein gewisses Maß an Interkulturalität gibt. Wenn nicht gekonnt damit umgegangen wird, können sich Menschen aufgrund von Unsicherheit und Ängstlichkeit bedroht fühlen. Dies kann sogar dazu führen, dass man sich aus einer interkulturellen Begegnung zurückzieht oder die Begegnung mit anderen gar vermeidet.

In unserer letzten Lerneinheit haben wir gelernt, dass Kultur auf eine Gruppe von Menschen verweist, deren Grenzen unscharf sind. Innerhalb der Gruppe teilen Menschen ein gewisses Maß an Wissen und haben ein Gefühl der Vertrautheit und ein gemeinsames Code- bzw. Zeichensystem entwickelt. In einer interkulturellen Situation ist es also von entscheidender Bedeutung, gemeinsame Normalität und Routine herzustellen, um diese Interaktion zu einer anregenden und bereichernden Erfahrung werden zu lassen.

Kurz gesagt, der Begriff Interkulturalität beschreibt die Abwesenheit von Normalität, Plausibilität und bezieht sich auf fehlende Routinen. In einer interkulturellen Begegnung treffen also Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Normalität, Plausibilität und unterschiedlichen Handlungsroutinen aufeinander und finden sich in einer ungewohnten Situation wieder.

 
Aufgabe: Definition des Begriffs "interkulturelle Begegnung“

Teil 1: Schauen Sie sich die Definitionen und Aussagen weiter unten an. Was haben sie gemeinsam und worin unterscheiden sie sich voneinander?
Notieren Sie Ihre Antworten in Ihrem Learning Journal.

Teil 2: Sortieren Sie die Definitionen/Erklärungen nach ihrer Position auf einer Skala zwischen "offenem" und "geschlossenem" Verständnis von Kultur, indem Sie ihnen einen Wert von 1 (= offenes Konzept) bis 7 (= geschlossenes Konzept) zuordnen.

Diagramm für diesen Kurs entwickelt von Yeliz Yildirim-Krannig.

Teil 3: Wenn Sie Ihre Antwort auf die erste Frage noch einmal betrachten, würden Sie Ihre Antwort ändern oder etwas hinzufügen? Notieren Sie Ihre Gedanken in Ihrem Learning Journal.


Zuletzt geändert: Freitag, 11. Oktober 2024, 22:34