Wenn wir die Komplexität von Kultur verstehen wollen, so unser Argument, gilt es mehr als einen Pass als Identitätsmerkmal zu berücksichtigen. So sollten wir beispielsweise Faktoren wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Lebensstil, Sprache, Bildung und Beruf als potenzielle Marker sowohl für Unterschiede als auch für Gemeinsamkeiten im sozialen Leben betrachten. Wenn es unser Anliegen ist, Gemeinsamkeiten zu entdecken, ist es zielführender anstelle der nationalen Identität die Zugehörigkeit in verschiedenen Kollektiven in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Dies bedeutet, sich auf Multikollektivität, anstatt auf Nationalität zu konzentrieren und damit einen "Zoom-in"-Ansatz gegenüber einem "Zoom-out"-Ansatz zu bevorzugen. Dieser Grundsatz gilt auch für kommunikative Praktiken.
Als Mitglieder zahlreicher und unterschiedlicher Kollektive sind wir mit einer Vielzahl von sprachlichen und kommunikativen Routinen vertraut. Dazu gehört beispielsweise, was wir sagen, wie wir Ideen ausdrücken und wann wir sie mitteilen. Und wir konstruieren Kollektive durch Kommunikation. Die Verwendung einer bestimmten Sprache oder kommunikativer Praktiken wiederum dienen auch als Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft.
Anhand der Mongolei, einem ostasiatischen Land, möchten wir diese Überlegungen veranschaulichen. Nach Robert I. Binnick (2022) gehören die mongolischen Sprachen zur Gruppe der altaischen Sprachen und werden nicht nur in der Mongolei, sondern auch in den benachbarten Regionen Ost-Zentralasiens gesprochen. Eine weithin akzeptierte, wenn auch nicht allgemein unumstrittene Klassifizierung unterscheidet eine westliche und eine östliche Sprachgruppe. Zur westlichen Sprachgruppe zählen das eng verwandte Oirat, dass in der Mongolei und in der chinesischen Region Xinjiang gesprochen wird, sowie das Kalmückische in Südwestrussland. Zur östlichen Sprachgruppe zählen die eng verwandten burjatischen in Russland gesprochenen Sprachen und mongolischen Sprachen, die in der Mongolei und China verbreitet sind.
Dieses Beispiel veranschaulicht, dass es innerhalb eines Landes nicht unbedingt eine sprachliche Übereinstimmung gibt, auch nicht hinsichtlich der gesprochenen Amtssprache. Gemeinschaften, die dieselbe Sprache sprechen, können sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen eines Landes existieren.
Ein charakteristischer Aspekt der mongolischen Sprachen, die in und außerhalb der Mongolei gesprochen werden, ist seine Schrift. Die klassische mongolische Schrift verläuft vertikal von oben nach unten und spaltenweise von links nach rechts wie in der nachstehenden Abbildung dargestellt.
Vers in mongolischer Schrift (Verfasser unbekannt)
Heute werden immer noch Alphabete verwendet, die auf dieser einzigartigen klassischen vertikalen Schrift basieren, auch wenn sich die russische kyrillische Schrift im Alltag immer mehr durchgesetzt hat.
Was die gesprochenen Sprachen betrifft, so ist Russisch die am häufigsten verwendete Fremdsprache, gefolgt von Englisch, das allmählich an Popularität gewinnt. Aufgrund der großen Anzahl von Mongolen, die in Südkorea arbeiten, wird auch Koreanisch immer häufiger verwendet (vgl. Mongolische Schrift - Wikipedia, 16. Januar 2023).
Die Untersuchung der in der Mongolei genutzten Schriften, gesprochenen und geschriebenen Sprachen und Dialekte zeigt den sprachlichen Reichtum des Landes. Die Tatsache, dass sich viele Menschen in mehreren Sprachen unterhalten können, verdeutlicht das Vorhandensein verschiedener, sich manchmal überschneidender Sprachgemeinschaften. Diese Vielfalt wird von jungen Menschen bereichert, die in ihren täglichen Interaktionen, sowohl online als auch offline, nahtlos Sprachen mischen und kombinieren. In diesem Zusammenhang spricht Dovchin (2016; S.1) sogar von einem Generationsunterschied in der modernen mongolischen Kommunikation. Bolor, eine der von ihr befragten Personen, verdeutlicht dies. Sie berichtet, dass sie ihren Eltern und Großeltern manchmal ihre Art zu sprechen erklären muss, weil sie Schwierigkeiten haben, das zu verstehen, was Bolor für eine völlig normale Form der Kommunikation hält.
Eine gängige Praxis ist beispielsweise mongolische Suffixe mit englischen Stammwörtern zu kombinieren. Ein Beispiel hierfür ist die Frage "cocktaildehuu?", was so viel bedeutet wie "Sollen wir Cocktails trinken?". In diesem Fall wird der englische Wortstamm "cocktail" an das mongolische Fragesuffix "-dehuu?" angehängt. ("Sollen wir etwas tun?"). Wie Dovchin (2016; S.7) feststellt, ist es ein alltäglicher Vorgang, neue Wörter auf diese Weise zu bilden.
Eine weitere Methode, Englisch in die mongolische Sprache zu integrieren, ist die Verwendung englischer Ausdrücke wie "wow", "hey", "oh" und "ouch" in Gesprächen. Dovchin (2016; S.8) weist darauf hin, dass es in der Jugendsprache hunderte, wenn nicht tausende von anglisierten mongolischen sprachlichen Ausdrücken gibt. Darüber hinaus ist es üblich, englische Verben in die mongolische Sprache aufzunehmen, wie z. B. "chatlah" im Sinne von "chatten", "emaildeh" im Sinne von "emailen" oder "showday" im Sinne von "ausgehen" (Dovchin, 2016; S.8). Es sind jedoch nicht nur englischsprachige Wörter und Ausdrücke, die in die Alltagskommunikation integriert werden, wie der folgende Facebook-Eintrag zwischen Altai und Undraa zeigt:
Quelle: Dovchin, Sender (2017, S. 152), nachgebaut und übersetzt
Die erste Zeile des Austauschs verweist darauf, dass Altai ein Foto ihrer Freundin Undraa hochgeladen hat. Sie kommentiert es, indem sie türkische und mongolische Sprachphrasen mischt. Bei dem eingefügten "love n miss" handelt es sich laut Dovchin et al. (2018; S. 4) um einen beliebten transnational genutzten Ausdruck in der Online-Kommunikation. Der Begriff "Ai Syopping" ("Augen-Shopping") ist eine aus dem koreanischen Englisch entlehnte Phrase, die "I am window shopping" bedeutet und mit Schaufensterbummel übersetzt werden kann. Die Bezeichnung "Louis Vitton" bezieht sich auf die bekannte französische Marke Louis Vuitton. Die Verwendung des Türkischen kommt ins Spiel, weil Altai nach dem Umzug in die Hauptstadt der Mongolei, Ulaanbaatar, eine türkische High School besuchte (Dovchin, 2018; S.4-5). Der Facebook-Post ist ein typisches Beispiel dafür, wie junge Menschen, die ihnen zur Verfügung stehenden kulturellen und sprachlichen Ressourcen zusammenführen und nutzen, um ein für die Mitglieder ihres Kollektivs spezifisches Kommunikationsmuster zu entwickeln.
Wir gehören in der Regel großen oder größeren Sprachgemeinschaften an und somit auch größeren Kollektiven. Darüber hinaus sind wir aber, wie Altai und Undraa, auch Mitglieder kleinerer Kollektive, in denen eine andere Art der Korrespondenz und der Kommunikation gängig ist. Der schriftliche Austausch zwischen den beiden verdeutlicht auch, wie stark soziale Interaktionskonventionen mit Sprache verwoben sind, wie diese durch die Sprache weitergegeben werden und sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln und verändern.
Unsere Zugehörigkeit zu Kollektiven beeinflusst die Sprachen, die wir verwenden, und die Art und Weise, wie wir unsere sprachlichen Ressourcen einsetzen. Gleichzeitig bringt die Zugehörigkeit zu diesen Kollektiven bestimmte soziale Konventionen und damit kommunikative Praktiken mit sich, die wir erlernen, an die wir uns anpassen, die wir beeinflussen, verändern und verinnerlichen. Diese kommunikativen Praktiken laufen in der Regel jenseits unserer bewussten Wahrnehmung ab. Wenn wir mit Personen zu tun haben, die mit diesen Praktiken nicht vertraut sind, kann das Teilen und Verstehen von Bedeutung verwirrend und herausfordernd werden.
Interkulturalität wird als ein Abweichen von Normalität, Plausibilität und Routinehandlungen während einer Begegnung verstanden. Diese können auftreten, weil Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen beispielsweise unterschiedliche Sprach- und Verhaltensmuster, Kommunikationsformen, Kommunikationsstile und kommunikative Praktiken verwenden. Interkulturelle Kommunikation findet folglich statt, wenn Individuen die vertrauten Normen, Plausibilitäten und Routinen in ihrer Kommunikationsweise und folglich in ihren kommunikativen Handlungen vermissen lassen. Diese Unterschiede können zu inkongruenten Erwartungen und Missverständnissen und zu Überraschungen oder negativen Reaktionen führen.
Interkulturelle Kommunikation wird daher definiert als eine Interaktion, bei der ein oder beide Kommunikatoren kommunikative Praktiken anwenden, mit denen der oder die andere nicht vertraut ist und die als anders wahrgenommen werden. Dies führt zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, Annahmen und Interpretationen, was die Aushandlung von Bedeutung und die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugsrahmens erforderlich macht.
Aufgabe: Meine Sprachgemeinschaften
Bestimmen Sie die Sprachkollektive oder Sprachgemeinschaften, denen Sie angehören. Wählen Sie eine von ihnen aus, um sprachliche Eigenheiten aufzuzeigen, die bei der Interaktion mit Menschen, die nicht zu Ihrem Kollektiv gehören, zu Überraschungen, Verwirrung oder Missverständnissen führen könnten. Diese Eigenheiten könnten sich auf die Terminologie, das Fachvokabular, einen Dialekt oder bestimmte Ausdrücke beziehen, die in Gesprächen innerhalb Ihrer Gruppe verwendet werden.
Notieren Sie die Ergebnisse Ihrer Analyse in Ihrem Learning Journal.