Es gibt ein Sprichwort, das besagt: "Kultur ist überall und Kultur ist nirgends", was bereits darauf hinweist, dass Kultur als Konzept bekanntermaßen schwer zu definieren und zu erklären ist. Trotzdem wird der Begriff häufig verwendet, um ein breites Spektrum von Phänomenen zu beschreiben. Bevor wir das Konzept aus einer theoretischen Perspektive näher betrachten, wollen wir uns einige Situationen ansehen und versuchen herauszufinden, wo Kultur die Begegnungen beeinflusst haben könnte.
Aufgabe: Fall "Auf dem Weg zur Cafeteria"
Lesen Sie bitte die kurze Fallstudie durch und beantworten Sie die dazugehörigen Fragen. Notieren Sie die Antworten in Ihrem Learning Journal.
Tom, ein Doktorand der Philosophie, und sein Mitbewohner Christian gehen in die Cafeteria. Plötzlich bemerkt Christian, dass seine Mensakarte nicht aufgeladen ist und fragt Tom, ob er sich drei Euro von ihm leihen kann. Tom hat kein Problem damit, also gibt er seinem Freund das Geld und beide gehen zusammen essen. Christian geht, nach dem sie fertig sind, sofort zur Bank und hebt Geld ab, um Tom das geliehene Geld zurückzugeben. Tom ist überrascht. Er hatte sich gefreut, seinem Freund das Geld geben zu können, und wollte es auf keinen Fall zurückhaben. Christian besteht aber darauf und bringt Tom dazu, das Geld anzunehmen. Tom ist enttäuscht und zieht es von nun an vor, mit anderen Freunden in die Cafeteria zu gehen.
Quelle: In Anlehnung an das Forschungsprojekt "Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium" (MuMis-Projekt, 2011)
- Was könnten Gründe für Toms Enttäuschung bezüglich des Verhaltens seines Freundes sein?
- Was könnte die Geste, seinem Freund mit drei Euro auszuhelfen, für ihn bedeutet haben?
- Warum will Christian das Geld unbedingt zurückzahlen?
- Was könnte Freundschaft für Tom und Christian bedeuten?
- Was könnte an ihrem Verhalten und ihrer Wahrnehmung kulturell bedingt sein?
Aufgabe: Fall "Der Austausch von Visitenkarten"
Lesen Sie sich bitte die kurze Fallstudie durch und beantworten Sie die dazugehörigen Fragen. Notieren Sie die Antworten in Ihrem Learning Journal.
Janina, eine IT-Studentin, die gerade ihren Abschluss gemacht hat, wurde eingeladen, auf einer lokalen Konferenz für Unterhaltungselektronik einen kurzen Vortrag zu halten. Auf dieser Veranstaltung kommt sie mit Seo-jun, einem Teilnehmer der Konferenz aus Südkorea, ins Gespräch, der zum ersten Mal in Deutschland ist. Seine Deutschkenntnisse sind nicht besonders gut, dennoch unterhalten sich die beiden intensiv und verstehen sich gut. Im Laufe des Tages beschließen sie, in Kontakt zu bleiben und ihre Visitenkarten auszutauschen. Seo-jun nimmt zuerst seine Visitenkarte aus einem silbernen Etui und überreicht sie Janina. Janina beginnt daraufhin, ihre Visitenkarten zu suchen, die sie vor einer ganzen Weile für solche Fälle ausgedruckt hatte. Sie greift in ihre Gesäßtasche und holt ihr Portemonnaie heraus. Die Visitenkarte ist ein wenig zerknittert, was Janina bei der Übergabe mit einem Lachen kommentiert. Trotzdem ist die Karte noch gut lesbar. Seo-jun, der vorher freundlich und aufgeschlossen war, ist plötzlich sichtlich reserviert und verhält sich immer zurückhaltender. Seo-juns Verhalten irritiert Janina. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt, aber sie weiß nicht, was.
Quelle: Adaptiert aus dem Forschungsprojekt "Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium" (MuMis-Projekt, 2011)
- Was für mögliche Interpretationen gibt es für Janinas Verhalten?
- Was für mögliche Interpretationen gibt es für Seo-juns Verhalten?
- Was könnte Janina denken?
- Was könnte an den Interpretationen und Denkmustern kulturell bedingt sein?
Aufgabe: Fall "Eine gute Studentin sein"
Bitte lesen Sie die kurze Fallstudie durch und beantworten Sie die Fragen. Notieren Sie die Antworten in Ihrem Learning Journal.
Jane, eine amerikanische Studentin, verbringt ein Jahr an einer deutschen Universität. Sie empfindet es als besonders schwierig, mit ihren deutschen Lehrenden in Kontakt zu treten. An ihrer Hochschule in den USA können Lehrende jederzeit und überall angesprochen werden. Wenn sie angesprochen werden, nehmen sie sich viel Zeit für die Studierenden. In Deutschland hingegen ist es notwendig, Termine zu vereinbaren, oder man muss die Lehrenden in der Sprechstunde aufsuchen. Jane braucht beim Verfassen ihrer ersten Hausarbeit sehr viel Unterstützung und versucht deshalb, ihrem Dozenten bei jeder Gelegenheit Fragen zu stellen. Doch der Dozent hat es meist eilig und bittet sie, in seine Sprechstunde zu kommen. Aber auch während der Sprechstunde hat Jane den Eindruck, dass die Zeit für die Beratung knapp bemessen ist. Denn vor der Tür des Büros warten viele andere Studierende, die auch an die Reihe kommen wollen. Dies veranlasst Jane dazu, sich kürzer zu fassen, als sie eigentlich beabsichtigt. Gleichzeitig stört sie sich an dem Zeitdruck, den sie in der Situation empfindet.
Quelle: Adaptiert und übersetzt aus dem Forschungsprojekt "Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium" (MuMis-Projekt, 2011)
- Was bestimmt Janes Verhalten?
- Was könnten die Gründe für das Verhalten des Dozenten sein?
- Was könnte der Dozent über Jane denken?
- Was hält Jane von dem Dozenten?
- Was könnte an dieser Begegnung kulturell bedingt sein?
Was wir unserer bisherigen Diskussion entnehmen können, ist, dass Kultur viele Facetten hat. Kultur kann sich auf das Verhalten beziehen, Wahrnehmungen, Erwartungen, Werte und Normen beeinflussen. Kulturelle Unterschiede können offensichtlich für Verwirrung und Irritationen sorgen, die wiederum das Verhalten und die Reaktionen auf das Verhalten beeinflussen. Wir können ebenfalls feststellen, dass sich Kultur auf Gruppen oder Kollektive bezieht, ein Aspekt, auf den in der folgenden theoretischen Auseinandersetzung näher eingegangen wird. Wir werden verschiedene Kulturkonzepte besprechen und zeigen, dass ein offener, multirelationaler Kulturansatz eine gute Grundlage für das Verständnis von Interkulturalität und für die Analyse von Verhaltensweisen darstellt.