Ein erster Schritt, um sich kulturell zu verorten, besteht darin, sich als Mitglied verschiedener Kollektive zu verstehen. Hierzu wollen wir uns zunächst ein kurzes Video über Emil und seine Kollektive ansehen.

Das Video zeigt, dass sich Kultur immer auf eine Vielzahl von Menschen bezieht, d. h. auf mehr als eine Person, und daher ein Gruppenphänomen ist. Solche Gruppen können so klein sein wie ein lokaler Fußballverein oder so groß wie eine Organisation oder eine Nation. Wir können sogar eine ganze Gesellschaft als kulturelle Gruppe bezeichnen und behaupten, dass es in jeder Gesellschaft kleinere Gruppen gibt, die einen Lebensstil und andere Merkmale teilen, die sich von denen der anderen Mitglieder und Gruppen unterscheiden. Vor diesem Hintergrund führte Hansen (2009) den Begriff "Kollektiv" ein, mit dem er Gruppen bezeichnete, die ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen aufweisen.

Hansen (2009) beschreibt zum Beispiel Deutschland als ein Dachkollektiv und die örtliche katholische Gemeinde als Sekundär- oder Subkollektiv (vgl. Hansen, 2009, S. 82). Der Hauptunterschied zwischen den beiden Kollektivarten besteht darin, dass Subkollektive aus Individuen und Dachkollektive aus Subkollektiven bestehen. Ein Tennisverein ist ein Subkollektiv, weil er aus Einzelmitgliedern besteht, während beispielsweise der Deutsche Gewerkschaftsbund aus mehreren Einzelgewerkschaften besteht und somit ein Dachkollektiv ist.

Der Begriff der Kollektive ermöglicht es uns zu verstehen, wie wir uns gleichzeitig einer Vielzahl von Gruppen stark zugehörig fühlen können und aufgrund dessen multikollektive Personen sind. Diese Kollektive können mit einem Beruf, einer familiären oder eigenen Migrationsgeschichte, einer Verwandtschaft, einer Sprache, einem Interesse, einer ethnischen Zugehörigkeit, einem Arbeitsplatz, einer Weltanschauung, einer institutionellen Mitgliedschaft oder mit sozioökonomischen oder regionalen Merkmalen verbunden sein. Darüber hinaus gibt es weitere Variablen zu berücksichtigen, die Einfluss auf soziale Beziehungen und Verhaltensmuster haben. Eine weitere Variable ist zum Beispiel der Einfluss von sozialen Medien, das Geschlecht, der soziale Status und auch Machtstrukturen, die für gewöhnlich weniger Beachtung finden. Diese Beispielvariablen zeigen auf, dass einige unserer Kollektivzugehörigkeiten bereits von Geburt an bestehen, andere sich erst herausbilden und wieder andere im Laufe des Lebens bewusst gewählt werden. Einige der Kollektive, denen wir angehören, können gegensätzliche Werte oder Prinzipien aufweisen, während andere miteinander verflochten sind und als ein Netzwerk betrachtet werden können.

Die folgende Abbildung veranschaulicht, dass Personen, die Mitglieder des gleichen Dachkollektivs sind, sowohl denselben als auch verschiedenen Subkollektiven angehören können. Die Stärke der Linien zeigt unterschiedliche Intensitäten in der Zugehörigkeit auf. Die Pfeile in der Abbildung verdeutlichen, dass Dachkollektive Subkollektive beeinflussen und umgekehrt, was wiederum auf die Dynamik von Kultur verweist - ein Aspekt, auf den wir später noch näher eingehen werden.

Abbildung: Vielfältige Kollektive (1)

Quelle: Flitta, Julia (2017). Basierend auf Yildirim-Krannig, Yeliz (2014).

Generell lässt sich sagen, dass die Zugehörigkeit zu mehreren Gruppen mit zunehmender Komplexität der sozialen Systeme tendenziell zunimmt und insbesondere in komplexen Gesellschaften sind Personen Mitglieder vieler verschiedener Kollektive. Damit einher gehen unterschiedliche Zugehörigkeiten und Loyalitäten, eine Vielzahl von Interessen, Rollen, Werten und sozialen Praktiken. Die Personen befinden sich daher immer an der Schnittstelle mehrerer Gruppenzugehörigkeiten. Diese Kollektive können sich überschneiden, lassen sich aber auch wie ein Mosaik zusammensetzen.

Multikollektivität bezieht sich auf die Vielfalt innerhalb von Kulturen. Das bedeutet, dass zwei Menschen mit dem gleichen nationalen oder ethnischen Hintergrund unterschiedliche Lebensstile, Weltanschauungen und Verhaltensmuster haben können.

Nehmen wir zum Beispiel eine bäuerliche Familie in Eritrea, deren Mitglieder keine formale Bildung erhalten haben und von der Landwirtschaft leben. In der Hauptstadt treffen sie auf eine Frau, die ausgebildete Ärztin ist, viel gereist ist und fließend Englisch spricht. Trotz ihrer gemeinsamen Nationalität werden sich ihre Ansichten, Erfahrungen und Referenzen wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die Ärztin mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Berufskollegen in anderen Teilen der Welt hat.

Die Betrachtung der Zugehörigkeit zu Kollektiven hilft uns also, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede innerhalb und über nationale Grenzen hinweg zu erkennen.

Ein weiteres Beispiel ist ein chinesischer Passinhaber, der Mitglied eines Kollektivs von Illustratoren ist. Einige der anderen Mitglieder dieses Kollektivs sind in Großbritannien und Deutschland aufgewachsen. Wenn sie sich treffen und miteinander kommunizieren, ist ihre berufliche Identifikation als Illustratoren viel relevanter als ihre nationale Identität, insbesondere weil sie Englisch als Lingua franca benutzen. In einem anderen Kontext könnte die Tatsache, in China aufgewachsen zu sein, eine größere Bedeutung haben als die berufliche Identifikation.

Die von den Kollektiven wegweisenden Pfeile zeigen an, dass einige Mitglieder des Dachkollektivs auch Mitglieder anderer Dachkollektive sind. Das klassische Beispiel sind Menschen, die zwei verschiedene Pässe besitzen, oder Menschen, die viel Zeit in einem Land verbringen und sich mit diesem, aber auch mit ihrem Geburtsland stark verbunden fühlen.

Abbildung: Vielfältige Kollektive (2)

Quelle: Flitta, Julia (2017). Basierend auf Yildirim-Krannig, Yeliz (2014).

Indem wir Kultur als Gruppenphänomen verstehen und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kollektiven anerkennen, bewegen wir uns weg von der Auffassung, dass Kultur ausschließlich mit eine "Pass-Identität" oder einer "ethnischen Gruppe" gleichzusetzen ist, wie z. B. den Nachkommen türkischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland oder britischen Rentnerinnen und Rentnern, die nach Frankreich ziehen und in einer so genannten "kulturellen Enklave" leben. Anstatt nur "den Migranten" wahrzunehmen, können wir eine große Vielfalt an Migrationsgeschichten, Bildungshintergründen, Aufenthaltsdauer, Weltanschauungen und wirtschaftlichen Hintergründen entdecken. Personen, die dem deutschen Dachkollektiv angehören, können gleichzeitig dem Weg des Buddha folgen und sich als Mitglieder des Subkollektivs der Buddhisten betrachten. Sie teilen diese Mitgliedschaft mit vielen anderen Menschen in der Welt, die versuchen, den Lehren und Praktiken Buddhas zu folgen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Die folgende Abbildung zeigt eine Person mit mehreren Kollektivmitgliedschaften, was durch die verschiedenen Farben um sie herum verdeutlicht wird. Wenn diese Person beispielsweise auf einer Party eine Gruppe von Leuten trifft, könnte es durchaus sein, dass sie ihr Interesse am Buddhismus mit diesen Leuten teilt.

Abbildung: Vielfältige Kollektive (2)

Quelle: Flitta, Julia (2017). Basierend auf Yildirim-Krannig, Yeliz (2014).

Die Person könnte auch feststellen, dass viele Leute auf der Party die Mitgliedschaft im Kollektiv „Studierende“ teilen. Einige von ihnen könnten studieren und sich dem Buddhismus zugehörig fühlen, wie in der folgenden Abbildung zu sehen ist.

Abbildung: Vielfältige Kollektive (2)

Quelle: Flitta, Julia (2017). Basierend auf Yildirim-Krannig, Yeliz (2014).

Die Geschwindigkeit, die Verbreitung und die Entwicklung von Diversität haben ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht. Den Menschen bieten sich immer mehr und bessere Möglichkeiten, ihren Wohnort zu wechseln, sei es aus Freizeit-, Arbeits-, politischen oder wirtschaftlichen Gründen, und so ihren Horizont und ihre kulturellen Orientierungen zu erweitern. Auch Ideen und Informationen bewegen sich in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und ermöglichen es den Menschen, sich an neue und sehr unterschiedliche Lebensstile und Verhaltensweisen anzupassen und diese zu übernehmen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Diversifizierung vollzieht, sowie die Ausbreitung von Vielfalt stellen unsere politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme vor Herausforderungen. Wir beginnen gerade erst, die Veränderungen und Herausforderungen zu verstehen, die mit diesen Entwicklungen verbunden sind. Sie haben auch Einfluss auf unsere Identitäten oder darauf, wie wir uns selbst wahrnehmen. In diesem Zusammenhang scheint es hilfreich zu sein, über das nachzudenken, was Amin Maalouf (2000, S.86) als "vertikales" und "horizontales" Erbe bezeichnet. Laut Maalouf (2000) erhalten wir von unseren Vorfahren das vertikale Erbe, welches sich auf das Erlernen von Traditionen, lokalen Werten und Normen bezieht. Das horizontale Erbe ist mit unserem Alter und den sozialen Gruppen, in denen wir uns verorten sowie mit der Umgebung, in der wir leben, verbunden und hat in der Regel einen sehr bestimmenden Einfluss auf uns. Diese „Erbschaften“ existieren nebeneinander und tragen zur Summe unserer verschiedenen Affinitäten und Zugehörigkeiten bei. Maalouf selbst ist im Libanon geboren und hat den größten Teil seines Lebens in Frankreich verbracht. Er argumentiert, dass er sich nicht nur beiden Ländern und ihren Kulturen zugehörig fühlt, sondern auch "das Ergebnis" beider Lebenswelten ist. Dies folgt dem Gedanken, dass wir in mehr als einem Land zu Hause sein können, und unterstützt die Vorstellung, dass wir mehrere Zugehörigkeiten und Loyalitäten und somit Multikollektivität anerkennen sollten. Das Verständnis für die Zugehörigkeit zu vielen und bisweilen recht unterschiedlichen Kollektiven ermöglicht es uns, in den komplexen Gesellschaften und Lebenswelten von heute, eine "dichte Beschreibung" vorzunehmen (Clifford Geertz, 1973), d.h. Interaktionen auf der zwischenmenschlichen Ebene (Mikroebene) zu betrachten und uns somit von der oberflächlichen und verallgemeinernden Ebene zu entfernen. Die Zugehörigkeit zu Kollektiven anzuerkennen, bedeutet auch, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, wo man Unterschiede vermuten könnte, und so eine gemeinsame Basis für das Verständnis der Mitglieder verschiedener Gruppen innerhalb und zwischen den Ländern zu entwickeln. Dieser Ansatz berücksichtigt die Verflechtung über Grenzen hinweg, die Vorstellung von kulturellen Anpassungen und Mischungen sowie die Vielfalt innerhalb von Gesellschaften. Wenn wir uns nur auf Nationalkulturen konzentrieren würden, würden wir unserer eigenen Vielfalt und der Vielfalt der Menschen um uns herum nicht gerecht werden.
 
Aufgabe: Meine Kollektive

In welchen Kollektiven sind Sie Mitglied?
Nennen Sie fünf Kollektivzugehörigkeiten und notieren Sie diese in Ihrem Learning Journal.

Sie werden feststellen, dass einige dieser Kollektive leicht zu fassen sind, z. B. Ihr Projektteam, während andere, wie z. B. Ihr Gender-Kollektiv, sehr schwer einzugrenzen ist.


Zuletzt geändert: Mittwoch, 29. Mai 2024, 17:01