In einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Kollektiv teilen die Menschen ein Repertoire an Wissen. Es handelt sich dabei um Wissen, das wir erwerben und nutzen, um die Welt um uns herum zu verstehen, Erfahrungen zu interpretieren und soziales Verhalten zu entwickeln. Wie Hoffman und Verdooren (2019) argumentieren, kann sich dies auf praktisches "Alltagswissen" im Sinne von "so werden die Dinge hier gemacht" beziehen. Dies könnte sich zum Beispiel auf die Öffnungszeiten von Geschäften und staatlichen Einrichtungen, auf Verkehrsregeln sowie auf das rechtliche und politische System beziehen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen mit dem Bus fahren und sind neu in der Stadt. Sie könnten auf Verhaltensweisen und Regeln stoßen, bei denen Sie vor dem Einsteigen in den Bus eine Fahrkarte kaufen müssen, was Sie vielleicht über eine App oder am nächsten Kiosk erledigen können. In einem anderen Kontext muss man den Fahrschein vielleicht unmittelbar beim Einsteigen in den Bus kaufen oder es gibt einen Fahrkartenkontrolleur. Menschen, die mit ihrer Umgebung vertraut sind, teilen dieses Wissen über das "Busfahren". Als Neuankömmlinge können wir uns irritiert fühlen, wenn das "Busfahren" anders funktioniert, als wir es erwarten und gewohnt sind. Das Wissen darüber, "wie die Dinge hier ablaufen", ist wichtig, da es uns hilft, unseren Alltag zu regeln.
Wann und wie andere Menschen begrüßt werden, kann ein weiterer wichtiger Bestandteil des Alltagswissens sein. Stellen Sie sich vor, Sie machen ein Praktikum in einem internationalen Unternehmen und an Ihrem ersten Tag führt Sie Ihr Vorgesetzter durch das Büro, um Ihnen Ihre neuen Kollegen und Kolleginnen vorzustellen. Er bleibt an jedem Schreibtisch stehen und stellt Ihnen die Person vor. Was werden Sie tun? Die Hand schütteln? Der Person ein Lächeln schenken?
Kulturelles Wissen bezieht sich aber auch auf abstrakteres Wissen, wie z. B. Wissen über Philosophie, Kunst, Geschichte oder Wissenschaft, insofern es in einem Kollektiv vorherrschend ist. Dieses Wissen kann die Quelle von Ideen, Inspirationen und Diskussionen sein und innerhalb eines Kollektivs das darstellen, was Hoffman und Verdooren (2019, S.28) als "Bezugsrahmen" oder „kognitive Landkarte“ einer Gruppe bezeichnen. Solche Karten helfen den Menschen bei der Beurteilung dessen, was als richtig oder falsch angesehen wird, und sie enthalten einige Grundsätze und eine Orientierung, wie auf solche Situationen zu reagieren ist und sie zu interpretieren sind. Das bedeutet nicht, dass solche „kognitiven Landkarten“ uns zwangsläufig zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Es bedeutet auch nicht, dass solche Karten allen Umständen gerecht werden, aber sie enthalten einige Grundsätze und eine Orientierung dafür, wie auf bestimmte Situationen reagiert und diese interpretiert werden sollten. Während Wissen etwas ist, das nicht beobachtbar ist, da es sich in den Köpfen von Personen befindet, ist Verhalten hingegen direkt beobachtbar. Dabei liegen Wissen und Informationen dem Verhalten von Personen jedoch zugrunde. Indem wir also darauf verweisen, dass Kultur aus den gemeinsamen Wissensbeständen in den Köpfen und ihrem Verhalten besteht, wird deutlich, dass sie sowohl mentale Phänomene als auch Verhaltensphänomene umfasst. Darüber hinaus können sich die Wissensbestände einer kulturellen Gruppe von denen anderer Gruppen unterscheiden, was es den Gruppenmitgliedern ermöglicht, sich so zu verhalten, wie es für sie sinnvoll und für die anderen Gruppenmitglieder annehmbar ist.
Wissen, das leicht zu artikulieren, zu erfassen, zu speichern und abzurufen ist, wird als explizites Wissen bezeichnet. Wenn Sie beispielsweise eine neue Stelle in einem Unternehmen antreten, erhalten Sie wahrscheinlich eine Broschüre mit Informationen über die Unternehmensgeschichte, die Organisationsstruktur und einen Leitfaden darüber, was von Ihnen erwartet wird, wenn Sie für das Unternehmen arbeiten. Explizites Wissen finden wir z. B. im Help Center eines Unternehmens, in Wissensdatenbanken, in der Prozessdokumentation, in Benutzerhandbüchern, in White Papers, in Forschungsberichten, in Datenblättern, in Spezifikationen, in Organigrammen, in formalen Unterlagen sowie in Video- und Audioaufzeichnungen.
Als ein weiteres Beispiel können wir Spanien nehmen. Die Tatsache, dass Madrid die Hauptstadt des Landes ist, ist allgemein bekannt, und auch, dass Spanisch die offiziell anerkannte Sprache des Landes ist. Es ist ein Wissen, das leicht erworben, aufgezeichnet und weitergegeben werden kann.
Ein sehr viel schwieriger zu fassendes Konzept ist das implizite Wissen, d. h. unbewusste und unerkannte Informationen, die unbemerkt durch Erfahrung, Sozialisierung und Gewohnheiten erworben wird. Das unbewusste Wissen ist das am schwierigsten aufzuschreibende, zu artikulierende oder in einer greifbaren Form darzustellende Wissen, oder zumindest würde es viel Zeit und Mühe kosten, es zu artikulieren, wenn danach gefragt würde.
Denken Sie zum Beispiel an den köstlichsten Kuchen Ihrer Großmutter. Obwohl sie Ihnen das Rezept gegeben oder Ihnen alle Zutaten genannt hat, die Sie brauchen, haben Sie beim Ausprobieren das Gefühl, dass etwas anders ist oder fehlt. Der Grund dafür ist, dass Ihre Großmutter nach jahrelanger Erfahrung genau weiß, wie sich der Teig anfühlen oder wie lange der Kuchen im Ofen bleiben muss. Das ist nichts, was sie aufschreiben kann; sie fühlt es einfach.
Wenn wir Kultur als alltägliche Praxis verstehen, wird deutlich, dass ein großer Teil des kulturspezifischen Alltagswissens implizites Wissen ist, das sich nur schwer in leicht zugängliches explizites Wissen umwandeln lässt.

Wir können uns einem weiteren Beispiel widmen und uns überlegen, wie wir eine Fremdsprache lernen. Das Erlernen des Alphabets, der Satzstruktur und des Wortschatzes ist das explizite Wissen, das wir erwerben. Aber die Betonung der Wörter wie Muttersprachler es tun oder die Übernahme eines für eine Region spezifischen Akzents erfordert in der Regel den Erwerb impliziten Wissens. Dieses stellt sich vielleicht erst dann ein, wenn wir eine Zeit lang in der Region gelebt haben und in die Kultur eintauchen konnten. Und wenn wir uns den lokalen Akzent oder die muttersprachliche Betonung angeeignet haben, sind wir dann in der Lage, uns daran zu erinnern, wie wir das eigentlich gelernt und umgesetzt haben? Ein weiteres Beispiel für implizites Wissen ist die Entwicklung innovativer Ideen. Wie kommen wir auf neue Ideen, neue Wege, Dinge zu tun und zum Beispiel ein Produkt zu entwickeln? Beruht das auf Intuition?
Aufgabe: Kultur und Wissen (1)
Schauen Sie sich beide Fotos an, auf denen Ware zum Verkauf angeboten wird.
Notieren Sie in Ihrem Learning Journal die Eindrücke, die Ihnen beim Anblick dieser Bilder in den Sinn kommen.

Quelle: Iken, Adelheid/Yildirim-Krannig, Yeliz (Das linke Foto wurde in Laos aufgenommen, das rechte Foto in Mosambik.)
Nachdem Sie diese Aufgabe bearbeitet haben, klicken Sie auf den folgenden Link, um sich ein Antwortbeispiel anzeigen zu lassen.
Antwortbeispiel anzeigen / verbergen
Teilnehmer und Teilnehmerinnen notierten zum Beispiel:
- Ich fühle mich angeekelt, wie kann jemand Ratten essen?
- Die Menschen, die Ratten essen, müssen sehr arm sein.
- Ich könnte das niemals tun.
Erläuterung der gezeigten Bilder:
In Mosambik und Laos betrachten manche Menschen Ratten als ein Nahrungsmittel und "Buschfleisch". Und es wird gesagt, dass wilde Ratten Beeren und Körner essen und daher als sichere Nahrungsquelle betrachtet werden können.
Das folgende Foto wurde in der New Yorker U-Bahn aufgenommen. Die meisten Menschen würden das Foto mit der Vorstellung betrachten, dass Ratten unreine, parasitäre Tiere sind, die Lebensmittel stehlen und Krankheiten verbreiten. Dies mag mit der historischen Erinnerung der Europäer an den so genannten Schwarzen Tod (die Pest) zusammenhängen, eine der am meisten gefürchteten Krankheiten im 14. Jahrhundert. An der Pest, die durch den Biss von infizierten Rattenflöhen übertragen wurde, sind damals Millionen von Menschen gestorben. Diese Erfahrung könnte zu dem Glauben geführt haben, dass Ratten besonders unreine Tiere sind, die sich nicht zum Verzehr eignen.

Quelle: Yildirim-Krannig, Yeliz
Im Karni-Mata-Tempel in Indien werden Ratten gut behandelt und mit Futter versorgt, wie das untere Foto zeigt. Hier sehen die Menschen Ratten als heilige Tiere an, die Kabbas genannt werden. Dieser Glaube hat seinen Ursprung im 14. Jahrhundert und beruht auf der Vorstellung, dass Ratten die Seelen verstorbener Menschen in sich tragen.

Quelle: Simon auf Pixabay, lizensiert unter der Simplified Pixabay License
Aufgabe: Kultur und Wissen (2)
Jetzt, wo Sie mehr über Ratten wissen, lesen Sie noch einmal, was Sie als erste Reaktion geschrieben haben, als Sie die Bilder der Ratten sahen, die an den Essensständen in Laos und Mosambik angeboten wurden. Wie könnten Ihnen die obigen Erklärungen helfen, andere und unsere eigene Reaktion zu verstehen? Notieren Sie Ihre Antworten in Ihrem Learning Journal.
Nachdem Sie diese Aufgabe bearbeitet haben, klicken Sie auf den folgenden Link, um sich ein Antwortbeispiel anzeigen zu lassen.
Antwortbeispiel anzeigen / verbergen
"Das Bild mit den aufgespießten Ratten anzuschauen, war für mich wirklich schwierig. Ich muss sagen, ich fand es sogar etwas abstoßend. Bei dem Gedanken an Menschen, die so etwas essen, habe ich mich gefragt: 'Wer würde so etwas Schmutziges essen wollen, und was sagt das über diese Menschen aus?'
Nachdem ich jedoch den entsprechenden Text gelesen hatte, stellte ich fest, dass die Menschen, die diese Ratten essen, mich genauso gut fragen könnten: "Was ist dein Problem damit, Ratten zu essen? Schließlich sind sie nicht mehr oder weniger schmutzig als Hühner, Kühe oder andere Tiere, deren Fleisch ich problemlos essen würde. Nachdem ich gelesen hatte, dass mein Verhalten gegenüber Ratten historisch bedingt ist, da Ratten vor Hunderten von Jahren als Krankheitsüberträger galten, kam ich zu dem Schluss, dass es sich lohnt, meine eigenen Urteile zu überprüfen und herauszufinden, woher sie eigentlich kommen. Das hilft mir auch, Verhaltensweisen zu verstehen, die ich nicht auf Anhieb verstehe."
Aufgabe: Kultur und Wissen (3)
Denken Sie an ein eigenes Beispiel, bei dem Ihnen das Wissen im Arbeits- oder Universitätskontext geholfen hat, andere Verhaltensweisen oder Zeichen zu verstehen.
Nachdem Sie diese Aufgabe bearbeitet haben, klicken Sie auf den folgenden Link, um sich ein Antwortbeispiel anzeigen zu lassen.
Antwortbeispiel anzeigen / verbergen
"Ich erinnere mich an mein Praktikum in Shanghai. Bei der Zusammenarbeit mit meinen chinesischen Kollegen fiel mir auf, dass diese, wenn sie mich um etwas baten, immer wieder betonten, wie dringend die Aufgabe sei, und sie schon Tage vor dem vereinbarten Termin fragten, ob ich die Aufgabe wirklich rechtzeitig erledigen könne. Ich fühlte sich ziemlich bedrängt, denn schließlich hatte ich versprochen, die Aufgabe bis zu diesem Tag zu erledigen. Die Ermahnungen meiner Kollegen gaben mir manchmal das Gefühl, dass sie mich nicht für eine zuverlässige Praktikantin hielten. Das Gefühl verstärkte sich noch, als ich feststellte, dass sich einige Kollegen selbst öfters nicht an Fristen hielten. Weil ich über dieses Verhalten etwas frustriert war, sprach ich meine Kollegin Xiao Hong darüber. Ich mochte Xiao Hong sehr und sah sie mehr als Freundin, denn als Kollegin.
Xiao Hong erklärte es mir so: 'Ich kann verstehen, dass Du frustriert bist, weil Du den Eindruck hast, dass unsere Kollegen Dich nicht für zuverlässig halten. Aber das ist wirklich nicht der Fall. In unserer Branche ändern sich die Dinge einfach ständig. Termine, die wir vereinbart haben, können schnell überholt sein, weil der Kunde etwas nicht mehr braucht oder unsere Chefin ihre Meinung ändert. Deshalb haben wir das Bedürfnis, unsere Kollegen ständig daran zu erinnern, dass die Aufgabe tatsächlich noch wichtig ist. Das ist auch der Grund, warum unsere Kollegen manchmal denken, dass die Aufgabe nicht mehr so wichtig ist, wenn man sie nicht hin und wieder an die Dringlichkeit erinnert. Das ist vor allem dann der Fall, wenn unsere Kunden oder Chefs uns plötzlich etwas Dringendes auftragen, was bei uns sehr oft vorkommt.'
Diese Information half mir sehr, das Verhalten meiner Kollegen und Kolleginnen zu verstehen und mit meiner Frustration umzugehen. Vor allem wusste ich, dass ich das Verhalten nicht persönlich hätte nehmen durfte."