iner der wichtigsten Beiträge, die das Studium der Interkulturellen Kommunikation geleistet hat, ist die Identifizierung unterschiedlicher Stile, Routinen, Orientierungen und Leitwerte für das Verhalten, die zu Missverständnissen führen können. Vor allem in der Lerneinheit 5 haben Sie viel über unterschiedliche Bedeutungen eines vermeintlich selben Symbols, Wortes oder der gleichen Handlung gelernt, die zu Verwirrung und Irritationen führen können. Wenn wir jedoch nur in binären Kategorien denken, z. B. in Briten und Mexikanerinnen, und ihnen Eigenschaften oder typische Verhaltensweisen zuschreiben, besteht die Gefahr des Kulturalismus und auf dieser Grundlage wird unser Verständnis der Situation nicht komplex genug sein da es in Wirklichkeit eine große Anzahl zusätzlicher Faktoren und Einflüsse gibt, die berücksichtigt werden müssen.

Amartya Sen drückt es in Bezug auf kollektive Zugehörigkeiten so aus:

"Ein und dieselbe Person kann widerspruchslos amerikanischer Staatsbürger, karibischer Herkunft, afrikanischer Abstammung, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Schriftstellerin, Feministin, Heterosexuelle, Befürworterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltaktivistin, Tennisfan, Jazzmusikerin und jemand sein, der die Ansicht vertritt, dass es im Weltraum intelligente Wesen gibt, mit denen man sich dringend unterhalten sollte (vorzugsweise auf Englisch). Jede dieser Kollektive, zu denen diese Person gleichzeitig gehört, verleiht ihr eine besondere Identität. Keines dieser Kollektive kann als einzige Identität oder als einzige Mitgliedskategorie der Person angesehen werden. Angesichts unserer unausweichlichen pluralen Identitäten müssen wir über die relative Bedeutung unserer verschiedenen Assoziationen und Zugehörigkeiten in einem bestimmten Kontext entscheiden."

Quelle: Sen, A. (2007). Identität und Gewalt. Die Illusion des Schicksals, S. XII-XIII (unsere Übersetzung)

Figure: The 'multi-collective' perspective

Quelle: Basierend auf Rathje, Stefanie (2015). Multicollectivity – It changes everything. Key Note Speech auf dem SIETAR Europe Congress
Illustration: Julia Flitta (www.julia-flitta.com)

Wenn wir diese Multikollektivität und Vielzahl unserer Identitäten und die vielfältigen daraus resultierenden kulturellen Orientierungen berücksichtigen, kann sich die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft situativ ändern. Manche Kollektive kann man nicht verlassen, wie etwa diejenigen mit Schuhgröße 39, andere sind wählbar. Wir können neuen Gemeinschaften beitreten und einige verlassen, während andere Zugehörigkeiten bestehen bleiben, wie in der Grafik dargestellt. Diejenigen, welche dieselbe Sprache sprechen oder demselben Fußballverein angehören, haben etwas gemeinsam. Aber was ist mit den vielen anderen Gruppenzugehörigkeiten, die wir haben? Die Betrachtung der Multikollektivität zeigt, dass wir durch eine gemeinsame Mitgliedschaft bestimmte Dinge teilen, aber wir können nicht mit Sicherheit wissen, warum sich eine Person so verhält, wie sie es tut. Auch wenn wir natürlich nach Ursachen und Gründen suchen können (gemäß der Perspektive der quasi-natürlichen Weltanschauung), ist jede Kategorie letztlich ein Konstrukt, ebenso wie unsere Annahmen über kulturelle Zugehörigkeit. In der Tat wissen wir nicht wirklich, was vor sich geht. Es gibt immer die Möglichkeit einer Sinnlücke, eines "Missing Link", wie Rathje es ausdrückt (2011), das heißt, es besteht immer das Risiko, dass wir etwas missverstehen oder nicht verstehen. Wenn wir den Multikollektivitätsansatz zu Ende denken, kann jede Begegnung interkulturell sein, da die kulturellen Ressourcen zweier Individuen kaum übereinstimmen und wir mit diesem Nichtwissen umgehen müssen. Dies ist die systemisch-konstruktivistische Perspektive. Sie führt zum Umgang mit Nichtwissen und zur Ko-Konstruktion und Aushandlung transkultureller Gemeinsamkeiten und Verbindungen.

Wenn wir uns auf eine systemisch-konstruktivistische Perspektive beziehen, erkennen wir an, dass es keinen einzigen letzten Grund, keine objektive Wahrheit oder Realität gibt. Alles hängt von den beobachtenden Individuen und ihren Perspektiven ab. Systemisches Denken beschreibt und differenziert in Form von Beziehungen und Interdependenzen. Es gibt keine "wahre Identität" von Personen, da so viele weitere Kategorien gibt und Kollektive lediglich eine Frage der Perspektive sind. Systeme, ihre Komponenten und Verbindungen existieren so lange, wie wir über sie kommunizieren. Es gibt keine endgültige "Ursache" für soziale Handlungen. Wir können nur Hypothesen aufstellen und sie ausprobieren. Individuen folgen Mustern und Spielregeln in einem System, und das ergibt für sie Sinn, auch für das lokale System. In einem Wohnblock (wie im obigen Szenario) interagieren wir zum Beispiel auch als Nachbarn oder als Besucherinnen, wenn wir nicht dort wohnen. In einer Fußballmannschaft sind der Verein, die Spielregeln und die Vereinskultur Schlüsselfaktoren, die unser Verhalten beeinflussen. Aus dieser Meta-Perspektive werden Elemente, die wir nutzen und die sich nicht an die Selbsterhaltungsprinzipien des Systems halten, als "fremd" betrachtet. Um auf wirklich neue Ideen zu kommen und damit das Repertoire an möglichen Gründen für eine Störung des Systems zu erweitern, ist es hilfreich, mit Unwissenheit und Unsicherheit zu arbeiten. Das bedeutet, dass wir uns auf das Nichtwissen einlassen müssen, indem wir zum Beispiel offene Fragen stellen, zu verhandeln und uns auf den Prozess einlassen, ohne das Ergebnis definieren und kennen zu müssen, das im Prozess gemeinsam hergestellt (ko-konstruiert) werden kann.

Beispiel:

David ist vor kurzem mit seinen Eltern in eine neue Stadt gezogen. Er ist ein leidenschaftlicher Fußballspieler und schließt sich ohne zu zögern dem örtlichen Fußballverein an. Er freut sich, dass er bei seinem Lieblingssport Freundschaften mit den anderen Teammitgliedern schließen kann. Im Verein gibt es nur ein Gesprächsthema, nämlich Fußball: Welche Mannschaft gerade in Topform ist, was in den verschiedenen Ligen passiert und welche Transfers es im Profifußball gibt. Nach einer Weile stellt David fest, dass er sich einer sehr heterogenen Mannschaft angeschlossen hat. Zwei Mitglieder stammen aus seiner Heimatstadt, in der er aufgewachsen ist. Auch sie hatten anfangs Heimweh. Drei seiner Teammitglieder sind Expat-Kids aus verschiedenen asiatischen Ländern, und sie unterhalten sich manchmal auf Chinesisch miteinander. Er ist gern mit den beiden anderen jüdischen Teammitgliedern zusammen, auch wenn sie nicht so religiös sind wie Davids Familie, und ein Kind hat genau wie er Diabetes, so dass sie gemeinsam darauf achten müssen, dass sie regelmäßig essen und ihren Blutzucker kontrollieren. Mit seinem besten Freund, Aaron, hat er viel gemeinsam, aber es gibt immer wieder Momente, wo er dessen Handlungen nicht nachvollziehen kann oder nicht verstehen, was er jetzt meint.

Zusammenfassung: Die systemisch-konstruktivistische Meta-Perspektive
  • Begriff der Kultur: systemisch-konstruktivistische Ko-Konstruktion
  • berücksichtigt verschiedene kollektive Orientierungen und Selbstidentifikationen sowie Muster
  • sucht nach verschiedenen Quellen der 'Verwirrung'
  • ist sich bewusst, dass es immer ein fehlendes Glied gibt, da Einzelpersonen nie alle Kollektive teilen und, wenn doch, die kulturellen Ressourcen unterschiedlich nutzen
  • kein Ursache-Wirkung-Denken, sondern Interdependenz
  • berücksichtigt situative / organisationale Aspekte
  • erfordert Selbstwahrnehmung und Offenheit der Kommunikationspartner
  • arbeitet mit der systemischen 'konstruktiven Kunst der Unwissenheit'
  • hat das Potenzial, Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen zu schaffen
  • ist kreativ und lösungsorientiert
  • begrenzt das Problem des Kulturalismus

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die entweder die Systemtheorie mit interkultureller Kommunikation verbinden oder einen multikollektiven Ansatz verfolgen, sind:

  • Jennifer Plaister-Ten ("The cross-cultural coaching kaleidoscope. A systems approach to coaching amongst different cultural influences", 2016)
  • Stefanie Rathje ("The cohesion approach of culture and its implications for the training of intercultural competence", 2010)
  • Steven Vertovec ("Superdiversity and its implications", 2007)
  • Wolfgang Welsch ("Transculturality – the puzzling form of cultures today", 1999)

Zuletzt geändert: Montag, 23. September 2024, 18:07