Überblick: Drei Konzepte für kulturelle Reflexivität
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Unterschiede, die wir bei den drei Meta-Perspektiven referiert haben. Es gibt nicht immer eine scharfe Trennung zwischen den Spalten und Aspekte einer Perspektive können sich mit einer anderen vermischen. Aber das Bild einer Situation, die wir sehen, ändert sich wenn wir unsere Herangehensweise an Wissen ändern. Wir können hierzu die Metapher eines Kaleidoskops verwenden: Sobald wir es drehen, ergibt sich ein anderes Bild, und wir entdecken andere Muster.
Drei Meta-Perspektiven, ein Überblick
Quelle: Nazarkiewicz, Kirsten, 2024 (für diese Einheit erstellt)
Für eine vergrößerte Ansicht klicken Sie auf das Bild
Transfer
Wenn wir Situationen und kritische Vorfälle mit kultureller Reflexivität angehen, haben wir immer die drei Fragen im Hinterkopf:
- Welche kulturellen Faktoren in Form von unterschiedlichen Perspektiven und Bedeutungen könnten dabei eine Rolle spielen?
- Welche anderen Kollektive und Systeme, insbesondere ein organisationaler Kontext, könnten einen Einfluss haben? Was wissen wir nicht und wofür brauchen wir überhaupt eine Lösung?
- Welche Privilegien und kollektiven Erfahrungen sind in der gegebenen Interaktion vorverteilt und müssen berücksichtigt werden?
Hassan aus Bangladesch hatte das Glück, ein Zimmer in einem neu eingerichteten privaten Wohnheim in Deutschland zu bekommen. Er teilt sich Küche und Bad mit seinen Mitbewohnern. Nach einigen Wochen erhält die Mitarbeiterin im Wohnheimbüro der Universität eine Beschwerde des Vermieters mit einigen Bildern im Anhang. Die nagelneue Küche ist sehr schmutzig, vor allem die Kochplatten sind stark verdreckt. Es scheint, dass sie nicht mehr sauber geschrubbt werden können. Sie spricht mit Hassan, der nur mit den Schultern zuckt.
Quelle: Inspiriert durch Hiller, Gwenn (2016): Eine Frage der Perspektive. Critical Incidents aus Studentenwerken und Hochschulverwaltung. Berlin: Deutsches Studentenwerk, S. 29. URL: https://www.studierendenwerke.de/beitrag/eine-frage-der-perspektive-critical-incidents-aus-studentenwerken-und-hochschulverwaltung, abgerufen am 23.9.2024
In einem kulturreflexiven Ansatz suchen wir nicht in erster Linie nach Persönlichkeitsmerkmalen, z. B. dass Hassan oder seine Mitbewohner unwissend oder faul sein könnten. Wir überlegen stattdessen, welche möglichen kollektiven Faktoren eine Rolle spielen könnten:
- Quasi-natürliche Weltanschauung: In den Familien in Bangladesch, die das Privileg haben zu studieren, ist es nicht ungewöhnlich, dass sich eine Haushaltshilfe um die Reinigung kümmert. Vielleicht ist Hassan daran gewöhnt, zu Hause Hilfe zu haben und hat es noch nie selbst gemacht? Manchmal wissen internationale Studenten nicht einmal, wie man mit Reinigungsgeräten umgeht. Es wäre interessant herauszufinden (falls nicht bekannt), wie die Bewohner aus den verschiedenen Ländern die Situation sehen.
- Systemisch-konstruktivistische Perspektive: Die Küche wird von so vielen Personen genutzt, dass unklar ist, wer "schuld" ist. Vielleicht sind die Zuständigkeiten für die Küchenreinigung oder die Hausordnung nicht ausreichend definiert. Gibt es eine? Wie viele Personen nutzen die Küche, was ist das Ziel, und könnte es eine Verpflichtung für die Zukunft geben? Die anderen Mitbewohner und Mitbewohnerinnen müssen mit einbezogen werden.
- Machtreflexive Praxis: Warum wurde Hassan angesprochen? Wird ein kulturelles Bild, d. h. ein Vorurteil gegenüber Ausländern verwendet, insbesondere wenn es sich um Muslime mit dunkler Hautfarbe handelt? Hassan befindet sich in einer schwierigen Situation, und es ist für Personen mit "ausländischen" Namen, die die Landessprache nicht fließend sprechen, sehr schwierig, mit begrenzten finanziellen Mitteln eine Wohnung oder ein Zimmer zu finden. Der Vermieter und das Wohnheimbüro könnten dies ebenfalls in Betracht ziehen.
Alle drei Meta-Perspektiven haben ihre Stärken und Grenzen. Die Suche nach kulturellen Erklärungen in der natürlichen Weltsicht sucht nach verschiedenen Begründungen, überschätzt aber möglicherweise kulturelle Faktoren, die mit Gewohnheiten, Umgangsformen oder Erwartungen zusammenhängen. Die machtreflexive Praxis ist grundsätzlich gleichheitsorientiert und reflektiert Prämissen und Vorannahmen, wobei sie sich intensiv auf die Voraussetzungen der Situation konzentriert. Der Einfluss des Einzelnen auf die Machtasymmetrien ist jedoch begrenzt. Dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz schließlich fehlt es an kultureller Expertise und er hat keinen Blick für Machtunterschiede, wenn das Nichtwissen im Vordergrund steht. Dafür ist diese Vorgehensweise achtsam und partizipativ und gemeinsam wird eine Lösung erkundet.