Wenn von Routinehandlungen die Rede ist, die von allen akzeptiert und geteilt werden, bedeutet dies, dass die beteiligten Personen einen Aushandlungsprozess durchlaufen haben. Eine ausgehandelte Kultur bezeichnet also eine wechselseitig und kollektiv geformte Kultur, die sich aus einem Kommunikationsprozess und einer Interaktion heraus entwickelt, an der alle beteiligt sind. Sie ist mit dem Wechselspiel und dem Prozess zwischen Aktion, Reaktion und Anpassung verbunden, der zur Konstruktion der Realität führt. Die Erfahrung von Marie und Jo mag dies verdeutlichen:

Als Marie und Jo angefangen haben, zusammenzuarbeiten, stellten sie fest, dass ihre Kommunikationsstile sich unterscheiden. Während Marie damit aufgewachsen ist zu warten, bis der andere seinen Satz beendet hat, ist Jo eine Person, der Marie mit Nachdruck unterbricht. Nachdem sie ihre anfängliche Verwirrung über Jo's Verhalten überwunden hat, beschließt Marie, mit Jo darüber zu sprechen. Dabei stellen sie fest, dass Jo seinen Kommunikationsstil als höflich empfindet. Indem er Marie unterbricht und sie unterstützt, will er seine Zustimmung und Wertschätzung zeigen. Jo versteht, dass Unterbrechungen Marie ablenken, vor allem wenn sie etwas erklären und über komplexe Themen sprechen will, und erklärt sich bereit, sich anzupassen. Sie vereinbaren, dass Marie, wenn sie etwas ausführlicher erklären möchte, ohne unterbrochen zu werden, dies einfach sagt. Manchmal fällt Jo jedoch in seine Gewohnheit zurück, und wenn es Marie wichtig ist, erinnert sie ihn scherzhaft an ihre Vereinbarung.

Yoko Brannen (1998, S. 12) benutzt den Begriff „aushandeln“ als Verb um uns zu ermutigen, organisatorische Phänomene aus der Sicht der Akteure zu betrachten, die durch ihre Arbeitserfahrung navigieren und sich an ihrem Arbeitsumfeld orientieren. Der Fokus auf Kultur als Aushandlung beinhaltet für ihn das Untersuchen der Erkenntnisse und Handlungsweisen von Organisationsmitgliedern, insbesondere in Konfliktsituationen, denn in solchen Situationen werden Annahmen überprüft. Aushandlungen können aus einer solchen Perspektive als Konstruktion und Rekonstruktion divergierender Bedeutungen und Handlungen seitens der Akteure identifiziert werden.

Um eine Kultur gemeinschaftlich auszuhandeln, sind verschiedene Prozessschritte notwendig, wie die folgende Abbildung zeigt. Menschen, die aufeinandertreffen, bringen ihre kulturellen Orientierungen, Grundannahmen und soziale Praktiken mit, die jeweils ihre individuelle soziale Geschichte widerspiegeln. Beim Zusammentreffen erleben sie daher eine Reihe unterschiedlicher Verhaltensroutinen, die im Laufe der Zusammenarbeit als verwirrend, schwierig zu handhaben oder unvereinbar empfunden werden. Diese können sich auf Themenfelder wie beispielsweise dem Kommunikationsstil oder spezifischer Arbeitsweisen beziehen und es gilt, sie bewusst aufzugreifen. In Anbetracht der Tatsache, dass Kultur in die persönliche soziale Lebensgeschichte eingebettet ist, besteht der nächste Schritt darin, zu fragen, welche Bedeutung die Verhaltensweisen haben. Hierbei ist es sinnvoll, die Kollektive zu betrachten, denen die verschiedenen Akteure angehören und die für die Aufgabe relevant erscheinen. Da die Interaktion in einem spezifischen Kontext stattfindet, in dem Hierarchie-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse eine Rolle spielen, ist es erforderlich, diese zu berücksichtigen und anzusprechen.

Aus diesem Zusammenspiel von gemeinsamer Sinnstiftung, Zielsetzung, Identifizierung von Themenfeldern und kontextuellen Einflüssen kann sich ein Kulturentwicklungsprozess ergeben, der den Umständen, dem Ziel der Gruppe und den darin vertretenen individuellen kulturellen Orientierungen entspricht. Im Laufe eines solchen Aushandlungsprozesses werden gemeinsame Bedeutungen sowie Regeln und Verhaltensweisen festgelegt, die für alle akzeptabel sind und die in der Praxis gelebt werden. Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Grundlage für Kommunikation, Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten.

Abbildung: Modell der Kulturaushandlung

Modell der Aushandlung von Kultur

Quelle: Basierend auf Brannen und Salk, 2000, S. 457

Illustration: Julia Flitta (www.julia-flitta.com/)

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Eine ausgehandelte Kultur ist wie jede andere Kultur auch fluid oder "flüssig", das heißt, dass im Laufe der Zusammenarbeit möglicherweise weitere Aushandlungen stattfinden und die gemeinsame soziale Praxis (Kultur) entsprechend angepasst wird. Eine ausgehandelte Kultur ist demnach das Ergebnis und der Beginn eines Prozesses.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Grundlage und damit einer gemeinsamen Kultur erfordert Zeit, Verständnis, Kommunikations- und Dialogbereitschaft und -fähigkeit sowie Kreativität. Abgesehen von der Offenheit der Beteiligten, die Zeit und Energie aufzubringen, die für die Entwicklung einer gemeinsamen Kultur erforderlich ist, kann der Grad der Unvertrautheit oder Fremdheit, den die Akteure empfinden oder erleben, unterschiedlich sein und spielt hierbei eine Rolle. Und schließlich hängt die Art und Weise, wie der Aushandlungsprozess verläuft, auch von der Komplexität und Relevanz der Arbeitsbereiche ab, die adressiert werden.

In einer Arbeitsgruppe, in der alle Mitglieder bereits Erfahrung mit Englisch als Lingua franca haben und sich darin sicher fühlen, gibt es zum Beispiel wenig Diskussionsbedarf, welche Sprache verwendet werden soll. Anders verhält es sich, wenn sich eine neu gegründete Arbeitsgruppe aus Personen zusammensetzt, die es nicht gewohnt sind, Englisch zu sprechen, und aus Personen, die recht gut Englisch sprechen und auch verschiedene Akzente und verwendete Wörter leicht verstehen. In einer solchen Konstellation ist die Sprache ein wichtiger Themenbereich. Hier könnten die Akteure im Rahmen einer Aushandlung eine Vereinbarung darüber treffen, dass diejenigen, die sich mit der englischen Sprache nicht wohl fühlen, sich in ihrer Muttersprache unterhalten. Eine andere Lösung wäre, dass jemand wichtige Themen in einer anderen Sprache als Englisch zusammenfasst, um sicherzustellen, dass alle Beiträge gehört und verstanden werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, dafür zu sorgen, dass wichtige Themen übersetzt werden.

Das Ergebnis eines solchen Aushandlungsprozesses lässt sich nicht vorhersagen, aber grundsätzlich sind mehrere Handlungsoptionen denkbar.

Komplementierung – Sich gegenseitig ergänzen:

Komplementierung bezieht sich auf die Bündelung von Ressourcen wie Wissen und Fähigkeiten mit dem Ziel, durch deren Kombination gemeinsam ein besseres Ergebnis zu erzielen.

Zum Beispiel könnte eine Person sehr gute technische Fähigkeiten haben und eine andere Person könnte sehr gut darin sein, Berichte zu schreiben. In der Zusammenarbeit könnten sie dann gemeinsam entscheiden, dass jeder von ihnen seine Stärken einbringt und sich darauf konzentriert.

Adaptation bezieht sich auf die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Verhalten der Situation entsprechend anzupassen und andere, neue Verhaltensmuster oder Arbeitsansätze zu akzeptieren, um den Zielen gerecht zu werden. Dieser Ansatz kann dadurch begründet sein, dass diejenigen, die einen besseren Zugang zu Ressourcen haben, effizienter arbeiten können.

Der Fall von Nick ist ein Beispiel für die Wahl eines solchen Ansatzes. Bevor Nick sein Praktikum begann, hatte er bereits als Werkstudent in einem internationalen Unternehmen gearbeitet, wo er von dem regelmäßigen Feedback, das er erhielt, sehr profitierte. Als er sein Praktikum begann, war er überrascht, dass er nie Rückmeldungen zur Qualität seiner Arbeit erhielt. Als er seinen Vorgesetzten darauf ansprach, wurde ihm gesagt, dass dies in seinem jetzigen Arbeitsumfeld nicht üblich sei und dass dafür auch keine Zeit sei. Als Praktikant hatte Nick das Gefühl, dass er keine andere Wahl hatte, als dies zu akzeptieren.

Adaptation – Anpassung

Adaptation bezieht sich auf die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Verhalten der Situation entsprechend anzupassen und andere, neue Verhaltensmuster oder Arbeitsansätze zu akzeptieren, um den Zielen gerecht zu werden. Dieser Ansatz kann dadurch begründet sein, dass diejenigen, die einen besseren Zugang zu Ressourcen haben, effizienter arbeiten können.

Der Fall von Nick ist ein Beispiel für die Wahl eines solchen Ansatzes. Bevor Nick sein Praktikum begann, hatte er bereits als Werkstudent in einem internationalen Unternehmen gearbeitet, wo er von dem regelmäßigen Feedback, das er erhielt, sehr profitierte. Als er sein Praktikum begann, war er überrascht, dass er nie Rückmeldungen zur Qualität seiner Arbeit erhielt. Als er seinen Vorgesetzten darauf ansprach, wurde ihm gesagt, dass dies in seinem jetzigen Arbeitsumfeld nicht üblich sei und dass dafür auch keine Zeit sei. Als Praktikant hatte Nick das Gefühl, dass er keine andere Wahl hatte, als dies zu akzeptieren.

Kompromiss – Zugeständnisse machen

Kompromiss bezieht sich auf das Ergebnis einer Aushandlung, bei der alle oder einige Beteiligte bis zu einem gewissen Grad nachgeben und neue Praktiken integrieren. Sie treffen sich also "in der Mitte".

Ein Beispiel: Lina konzentriert sich auf einen Bericht, der an diesem Tag fertiggestellt werden muss, wird jedoch von Leo, dem Praktikanten in ihrer Abteilung, unterbrochen, der Fragen stellt und sich zeigen lassen will, wie man die Excel-Listen richtig erstellt. Sie tauschen sich über ihre unterschiedlichen Erwartungen aus und schließen einen Kompromiss, der darin besteht, dass Lina Zeit mit Leo verbringt, um ihm zu helfen, und er Lina hilft, den Bericht zu formatieren, damit sie keine Zeit verliert.

Synergieeffekte – Neue Wege des Zusammenwirkens

Synergieeffekte bezeichnen einen konstruktiven Ansatz auf der Suche nach neuen und innovativen Wegen der Zusammenarbeit. Dieser unterscheidet sich vom komplementären Ansatz insofern, als dass er sich auf den Mehrwert der Zusammenarbeit und die Schaffung von etwas Neuem konzentriert. Soziale Interaktionen zwischen Teammitgliedern bringen neue Interpretationen und Produkte hervor, die die beteiligten Teammitglieder für sich allein nicht hätten hervorbringen können oder wollen.

Nachfolgend ein Zitat aus einem Praktikumsbericht, welches die Wertschöpfung an einem Beispiel verdeutlicht:

"Ein weiteres Beispiel für den Mehrwert des internationalen Teams zeigte sich, als wir alle gemeinsam an einer Analyse gearbeitet haben. Während ich zum Beispiel zu sehr ins Detail ging und viel Zeit verlor, weil ich es perfekt machen wollte, erinnerte mich mein Kollege daran, was wir noch zu tun haben und warum es nicht sinnvoll ist, sich in Details zu verlieren. Zuerst dachte ich, dass dies nicht der richtige Weg sei, weil wir nicht alle Informationen berücksichtigten, die uns zur Verfügung standen, aber schließlich lernte ich, dass es gut ist, einen Gesamtüberblick zu haben und die Gesamtzahlen zu betrachten. Die Arbeitsweise meiner Kollegen war recht interessant, denn sie legten ein Ergebnis fest, welches sie erreichen wollten, und fanden dann einen Weg, dieses Ergebnis zu erreichen, während ich versuchte, alles Schritt für Schritt auf das bestmögliche Ergebnis hin zu tun. Durch eine Mischung aus beiden Ansätzen erhielten wir am Ende eine sehr aussagekräftige Analyse und unser Chef war sehr zufrieden mit dem Ergebnis..."

Dieses Zitat macht ebenfalls deutlich, dass es für den Prozess der Synergieentstehung Offenheit und Zeit braucht


Modifié le: jeudi 4 juillet 2024, 12:37