1. Ein Beispiel zum Einstieg
Im Thinking geht es um das Entwickeln unserer kognitiven
Fähigkeiten, "indem wir verschiedene
Perspektiven einnehmen, Informationen
bewerten und die Welt als ein
zusammenhängendes Ganzes begreifen."
Ein entscheidender Schritt hierfür ist die Ergänzung der Coaching-Haltung um einen weiteren Aspekt, der zu einer kulturreflexiven Haltung führt.
Um die kulturreflexive Haltung kennen zu lernen, starten wir mit einem Beispiel. Analysiere folgende Situation:
Vor kurzem sind Herr Sabia, ein Allgemeinmediziner, und seine Familie, die vor dem Krieg in Syrien geflüchtet sind, in eine Wohnung im selben Stockwerk wie Herr und Frau Schmidt eingezogen, die in ihrem Heimatland seit 25 Jahren in diesem Wohnblock leben. Herr Schmidt ist der Hausmeister des Wohnblocks. Ada, Ben und Clarissa, wohnen in einer Wohngemeinschaft ebenfalls in dem Haus, allerdings in einem anderen Stockwerk. Bei einem Smalltalk im Treppenhaus beschwert sich Frau Schmidt bei ihnen über die Schuhe vor der Tür, den Lärm (einige seltsame Geräusche) und die vielen Besucher und Besucherinnen, die ihre neuen Nachbarn empfangen. Angesichts dieser Probleme geht sie davon aus, dass muslimisches Verhalten nicht in die Hausgemeinschaft passt...
Die Kulturreflexivität nähert sich dieser Situation durch die Verwendung von drei Arten von Annahmen und Fragen.
- Unter der Annahme, dass soziale Handlungen für die interagierenden Teilnehmer sinnvoll sind, welche Faktoren könnten hier kulturtypisch sein (z.B. bezogen auf unterschiedliche Kollektive wie eine (Sprach-)Gemeinschaft, eine gemeinsame Orientierung (z. B. Leistungssport), ein Land oder eine Region)?
- Die vielfältigen kulturellen Einflüsse, die hier im Spiel sind, bedeuten, dass es ein hohes Maß an Komplexität und Interdependenz gibt. Man könnte also sagen, dass es keine einzelne Ursache gibt und dass die Interpretationsmöglichkeiten begrenzt sind. Dennoch brauchen wir Lösungen für die Situation: Die Frage lautet daher: "Wie können wir gemeinsam erkunden Möglichkeiten erkunden und nach Lösungen suchen, ohne wirklich zu verstehen und zu wissen?“
- Schließlich ist keine Begegnung voraussetzungslos. Welche Privilegien sind vorverteilt und welche Machtstrukturen und kollektiven Erfahrungen sind in dieser Situation potenziell aktiv? Welche Maßnahmen könnten zu mehr Gerechtigkeit führen.
Eine kulturreflexive Analyse sieht wie folgt aus:
Der Ansatz, der durch die erste Frage charakterisiert wird, ist der bekannteste. Wir wissen oder erkundigen uns nach dem Sinn, den Gründen und Motiven des Phänomens. Vielleicht sind die Sabias einfach an die Tradition gewöhnt, die Schuhe auszuziehen, bevor sie eine Wohnung betreten, und betrachten dies als einen üblichen Akt der Höflichkeit. Auch der Empfang von Besuchern und Besucherinnen aus dem Freundes- und Familienkreis bei gleichzeitiger herzlicher Kommunikation könnte für sie ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens sein.
Zweitens sind wir uns bewusst, dass es viele andere Kollektive gibt, die beteiligt sind. Die Sabias zum Beispiel sind nicht nur eine Familie „aus Syrien“, sondern auch Mitglieder eines lokalen Sportvereins (Fußball), sie sind Christen und gehören mehreren anderen Kollektiven an, die wichtig sein könnten, von denen wir aber bisweilen nichts wissen. Auch die Kultur und Organisation der Wohngemeinschaft im Haus ist hier entscheidend. Gibt es Verpflichtungen und eine Hausordnung? Wie sieht es mit den impliziten Regeln aus, wie z. B.: Reden die Nachbarn selten miteinander oder helfen sie sich gegenseitig? Treffen sie sich manchmal auf Partys und tauschen sich aus? Wie könnte eine friedliche Lösung unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Gewohnheiten aller Parteien aussehen? Schließlich scheinen die Bedürfnisse der Schmidts durch das neue Verhalten im Haus nicht befriedigt zu werden. Und was ist mit den Bedürfnissen der Sabias?
Bei der dritten Frage betrachtet man das Szenario aus einem machtkritischen Blickwinkel: Akteurinnen und Akteure verfügen in Interaktionen über unterschiedliche Ressourcen an Sozialkapital, die ungleich verteilt sind und als versteckte Einflussfaktoren fungieren, die den jeweiligen Parteien Stärke oder Schwäche verleihen. Faktoren wie Geschlecht, Bildung, Sprachkenntnisse, Familienstand und vieles mehr verleihen den Worten der einzelnen Gesprächsbeteiligten mehr oder weniger "Gewicht".
Es gibt Asymmetrien: Die Schmidts haben eine lange Tradition im Haus und leben in ihrem Heimatland (mit den entsprechenden Passprivilegien, Rechten, Netzwerken und wahrscheinlich Sprachkenntnissen), während die Sabias ihr Heimatland unfreiwillig aufgrund eines Krieges verlassen mussten, der ihr Leben wahrscheinlich völlig durcheinander geworfen hat, und die nun in einer fremden Umgebung mit einem prekären Aufenthaltsstatus und vielen anderen Hürden leben, die es zu überwinden gilt.
Dies sind Gedanken aus dem kulturreflexiven Ansatz. Zur Veranschaulichung zeigen wir hier drei unterschiedliche Antwortmöglichkeiten auf die Beschwerde von Frau Schmift, entsprechend der drei oben referierten Blickwinkel.
1. Hier könnte man Verständnis für die Situation zeigen und den Schmidts erklären, dass die Gewohnheiten der Sabias kulturellen Ursprungs sein könnten. Es könnte sein, dass die Schmidts dadurch mehr Verständnis für das Verhalten aufbringen werden, wenn sie die Beweggründe verstehen.
2. Man könnte erwähnen, dass die Sabias, genau wie die Schmidts, Christen und keine Muslime sind. Man könnte aufzeigen, dass es keine Hausregeln gibt, oder zumindest dass niemand jemals auf strengen Regeln bestanden hat. Man könnte ausführen, dass es geholfen hat, dass die Nachbarn die Gewohnheiten der anderen kennen (wer gerne ausschläft, wer früh ins Bett geht, wer am Wochenende gerne bastelt usw.) und dass sie auf diese Weise die Bedürfnisse der anderen respektieren. Man würde das Ehepaar Schmidt an diese hilfreichen Praktiken erinnern und sie ermutigen, das Ehepaar Sabia einzuladen, um zu einem geeigneten Zeitpunkt mit ihnen über die Situation und mögliche Lösungen zu sprechen. Es könnte auch helfen, wenn sich beide Familien besser kennen lernen und vielleicht über ein gemeinsames Leben in einem Haus zu sprechen. Es kann zum Beispiel gut sein, dass die Sabias auch bei anderen im Haus auf Irritationen gestoßen sind oder das andere sich nicht an Schuhen und Geräuschen stören.
3.) Diese Position könnte darauf verweisen, dass es ein traumatisches Erlebnis sein muss, sein Zuhause zu verlieren und sich in einem neuen Land alles neu wieder aufbauen zu müssen und dass es vor diesem Hintergrund vielleicht wichtig ist, sich mit anderen zu treffen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Es könnte auch sein, dass Treffen außerhalb der Wohnung aus unterschiedlichen (z.B. finanziellen) Gründen eventuell nicht möglich sind. Unterschiedliche Wissensstände über Hausregeln aufgrund längerer und kürzerer Wohndauer in der Hausgemeinschaft können hier bewusst gemacht werden. Ziel ist es hier, die privilegierten Positionen des Rest der Hausbewohner:innen zu deutlich zu machen.
Die Idee eines kulturreflexiven Ansatzes besteht darin, die Perspektiven auf das, was wir für Kultur halten, systematisch zu erweitern, wie im obigen Beispiel gezeigt.
Der kulturreflexive Ansatz kann als ein systematischer Weg angesehen werden, mit dem Wissen, das wir über Kultur haben oder lernen, umzugehen, einschließlich unserer Reflexion über dieses Wissen. Er arbeitet mit verschiedenen Kulturbegriffen und ihren jeweiligen theoretischen Traditionen und kombiniert sie zu drei Meta-Perspektiven, die in den folgenden Abschnitten erläutert werden:
- Der erste Ansatz interpretiert die Situation aus einer kulturellen Gewohnheit heraus, ein klassischer interkultureller Ansatz. Wir nennen ihn die Quasi-natürliche Weltanschauung als interkulturelle Perspektive.
Hier haben wir die Frage im Kopf:
Welche kulturellen Faktoren in Form von unterschiedlichen Perspektiven und Bedeutungen könnten dabei eine Rolle spielen?
- Der
zweite Ansatz macht bewusst, dass wir angesichts der vielen kollektiven
Zugehörigkeiten und des dynamischen Charakters von Kulturen die Gründe
für Handlungen nicht genau kennen können, was bedeutet, dass wir
nachfragen, mit dem Nicht-Verstehen-können oder "Nichtwissen" arbeiten
und gemeinsam Lösungen finden müssen. Wir nennen ihn: Systemisch-konstruktivistische Ko-Konstruktion auf der Grundlage eines multikollektiven Ansatzes.
Hier haben wir die Frage im Kopf:
Welche anderen Kollektive und Systeme, insbesondere ein organisationaler Kontext, könnten einen Einfluss haben? Was wissen wir nicht und wofür brauchen wir überhaupt eine Lösung? - Der dritte Ansatz antizipiert die Machtasymmetrien in der Situation. Im
Vergleich zu den neuen Nachbarn haben die Bewohnerinnen und Bewohner
ohne Fluchthintergrund Privilegien, wie z.B. die Kenntnis der lokalen
Regeln, das Gefühl der Sicherheit oder einen sicheren
Aufenthaltsstatus. Wir nennen ihn: Machtreflexive Praxis (weil wir Macht und ihre Reduzierung im Verhalten und sprachlich praktizieren).
Hier haben wir die Frage im Kopf:
Welche Privilegien und kollektiven Erfahrungen sind in der gegebenen Interaktion vorverteilt und müssen berücksichtigt werden?
Ein kulturreflexiver Ansatz wird umgesetzt, indem all diese verschiedenen möglichen Perspektiven reflektiert und eingenommen werden.
Es gibt keine feste Reihenfolge bei der Verwendung der Meta-Perspektiven, d. h. im kulturreflexiven Ansatz kann mit jeder Perspektive begonnen und die drei Perspektiven wie ein Kaleidoskop verwenden werden, um eine Szene aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Wichtig ist, dass wir das Szenario/ein Anliegen aus allen drei Perspektiven betrachten und die Bedeutung der Identitäten und Ressourcen der Beteiligten in einer bestimmten Situation berücksichtigen und erst dann vielleicht unseren nächsten Handlungsschritt wählen.Ansatz 1 und 2 habt ihr bereits kennen gelernt. In der Folge verdichten wir noch mal wichtige Aspekte dieser Ansätze, um dann den dritten Ansatz, den der "Machtreflexiven Praxis" darzustellen.
*Hinweis: Die Inhalte dieses Abschnitts sind im Projekt Edubox entstanden und wurden für diesen Lernkontext modifiziert. Sie unterliegen der Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0.
