Wenn wir von Sozialverhalten sprechen, beziehen wir uns auf die Art und Weise, wie Menschen innerhalb und zwischen Kollektiven interagieren und wie sie sich zueinander verhalten. Soziales Verhalten beschreibt also das allgemeine Verhalten von Individuen. Wenn ein Kind lernt, sich zu "benehmen" und so zu handeln, wie es von seiner Umgebung als angemessen erachtet wird, erwirbt es sogenanntes kulturelles Verhalten. Kulturelles Lernen ist ein lebenslanger Lernprozess. Die Sozialisation in eine Gemeinschaft oder ein Kollektiv bedeutet in der Regel, dass man tief verwurzelte Überzeugungen, Werte und Annahmen hat und teilt, von denen die meisten als selbstverständlich und unbewusst vorausgesetzt werden.

Nehmen wir zum Beispiel Essgewohnheiten. Zu irgendeinem Zeitpunkt wurden bestimmte Verhaltensweisen beim Essen von den meisten Kollektivmitgliedern als angemessen erachtet und innerhalb dieses Kollektivs als soziale Praxis konventionalisiert. Die Mitglieder dieses Kollektivs betrachten das Essen mit Messer und Gabel als normal und angemessen. Infolgedessen werden sie Essgewohnheiten anderer Personen, die diese soziale Praxis nicht teilen wahrscheinlich als merkwürdig, irritierend oder sogar mit Abscheu betrachten und zum Beispiel Rülpsen als völlig unangemessen ansehen. Sie tun dies, weil sie ihre eigene Essgewohnheit unbewusst für normal und plausibel halten und andere Essgewohnheiten daher für sie unvertraut sind und keinen Sinn ergeben. Die Art und Weise, wie wir uns verhalten und was wir für "gutes" Verhalten halten, ist nicht naturgegeben, sondern hat sich zum einen als Reaktion auf die Umwelt und die verfügbaren Ressourcen und zum anderen aus kulturellen Aushandlungsprozessen entwickelt.

In der Interaktion mit anderen gibt es jedoch zwei weitere Komponenten, die das Sozialverhalten beeinflussen. Dies sind einerseits die Eigenschaften sowie die Persönlichkeit des Handelnden bzw. der Handelnden und andererseits die Situation oder der Kontext, die die Interaktion bestimmen. Das bedeutet, dass trotz der Neigung einer Person, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, ihr Verhalten sich je nach Umständen ändern kann. Zum Beispiel könnten wir aufgrund unserer kulturellen Prägung eine Vorliebe für eine direkte Art der Kommunikation haben und es vorziehen, deutlich zu formulieren, was wir wollen. Unter bestimmten Umständen, z. B., wenn wir jemanden um einen Gefallen bitten wollen, können wir jedoch bewusst oder intuitiv zu einem eher indirekten Kommunikationsstil nutzen.

Im Allgemeinen wird soziales Verhalten durch Beobachtung und Interaktion erworben und gelernt. Soziales Verhalten kann als eine kollektiv wahrgenommene Routine und erwartete Abfolge von Handlungen oder als eine Vorstellung davon, wie Dinge getan werden sollten, verstanden werden.

Widmen wir uns nun der Analyse vom zwei Fallstudien, um den Zusammenhang zwischen Kultur und Sozialverhalten zu erkunden.

 
Aufgabe: Beim Arzt

Stellen Sie sich vor, Sie müssen zum Arzt und werden dort gebeten, im Wartezimmer zu warten, bis Sie aufgerufen werden. Im Wartezimmer sind viele Stühle frei und nur ein weiterer Patient sitzt im Wartezimmer. Wo würden Sie sich hinsetzen? Wählen Sie aus der untenstehenden Liste, die sich auch in Ihrem Learning Journal befindet, diejenige Antwort / diejenigen Antworten aus, die Ihnen wichtig erscheint / erscheinen, und notieren Sie, warum Sie diesen Platz im Wartezimmer gewählt haben.

  • Sie entscheiden sich dafür, mindestens drei Stühle zwischen sich und dem anderen Patienten freizulassen, um Infektionen zu vermeiden
  • Sie möchten so weit entfernt wie möglich sitzen, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass der andere Patient mit Ihnen spricht, möglichst gering ist
  • Sie möchten in der Nähe des Fensters sitzen und sich nicht um den anderen Patienten kümmern
  • Der andere Patient wirkt auf Sie wie eine sehr einfühlsame Person, und Sie entscheiden sich dafür, in "Gesprächsdistanz" zu sitzen
  • Sie wollen nicht am anderen Ende des Raumes sitzen, weil sich der andere Patient eingeschüchtert fühlen könnte, wenn Sie den am weitesten entfernten Platz wählen
  • Sie möchten in der Nähe der Tür sitzen, damit Sie schnell aufstehen können, wenn Sie aufgerufen werden
  • Sie wollen sehr nah bei dem anderen Patienten sitzen, damit Sie diesen trösten und ein gutes Gespräch führen können
  • Eine andere Möglichkeit...

Für welchen Sitzplatz Sie sich letztendlich entscheiden, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dies können unter anderem die Person, die Kultur als soziale Praxis und der Kontext sein. Vielleicht sind Sie eine Person, die sehr kommunikativ ist und gerne andere Leute kennenlernt, d. h. Ihre Persönlichkeit würde hier eine Rolle spielen. Andererseits haben Sie vielleicht gelernt, dass das Sitzen neben einem Fremden in einem ansonsten leeren Raum als einschüchternd und unangenehm empfunden werden und unangemessen sein kann. Dieser Gedanke hat mit Kultur als soziale Praxis zu tun. Nicht zuletzt spielt auch der Kontext, in dem die Interaktion stattfand, eine Rolle. Ihre Wahl wäre vielleicht anders ausgefallen, wenn Sie beispielsweise in einer Botschaft gewartet hätten, um ein Visum für ein Land zu erhalten, das Sie gerne besuchen möchten. In diesem Fall hätten Sie vielleicht gehofft, von der anderen Person im Raum hilfreiche Informationen zu erhalten. Der Kontext würde Ihre Entscheidung also beeinflussen.

Normalerweise verbringen wir keine Zeit damit, darüber nachzudenken, wo wir in einem Wartezimmer sitzen, und noch weniger damit, wie unsere sozialen Praktiken unsere Wahl beeinflusst. Dieses Experiment dient jedoch dazu, uns bewusster zu machen, wie die Aspekte von Kultur als soziale Praxis, Person und Kontext unser Verhalten bestimmen. Und das wiederum ist ein wichtiger Baustein für den Umgang mit Verhaltensunterschieden. Schauen wir uns also ein anderes Beispiel an:

 
Aufgabe: Die fehlenden Informationen

Sie arbeiten mit vier anderen Personen an einem Projekt und wurden gebeten, eine Präsentation Ihrer Ergebnisse vorzubereiten. Die Frist ist knapp bemessen, und als Sie feststellen, dass Sie Informationen von Ihrem Kollegen Huan, einem der Teammitglieder, benötigen, wissen Sie nicht so recht, was Sie tun sollen, da Huan den Nachmittag über nicht im Büro ist und nicht erreicht werden kann. Sie wissen jedoch, dass die Akte mit den Informationen auf seinem Schreibtisch liegen muss. Was tun Sie? Kreuzen Sie in Ihrem Learning Journal eine der drei Möglichkeiten an.

  • Sie wissen, dass die Dokumente entweder auf Huans Schreibtisch oder in seinem Aktenschrank liegen müssen, also gehen Sie zu seinem Schreibtisch und suchen nach den benötigten Informationen
  • Sie gehen zu Huans Schreibtisch und sehen nach, ob die Akte mit den Informationen sichtbar ist, zögern aber, aktiv danach zu suchen
  • Sie hinterlassen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Huan und warten auf seine Rückkehr ins Büro

Unabhängig davon, wie Sie sich entscheiden, können Sie sich über Huans Reaktion nicht sicher sein. Lesen Sie die verschiedenen Möglichkeiten durch und überlegen Sie sich Erklärungen für jede seiner möglichen Reaktionen:

  • Ich kann nicht glauben, dass mein Kollege tatsächlich meine Akte und Dokumente durchgesehen hat. Ich habe das Gefühl, dass meine Privatsphäre wirklich verletzt worden ist
  • Ich bedaure, dass ich nicht erreicht werden konnte, und bin froh, dass mein Kollege sich die Freiheit genommen hat, nach den fehlenden Informationen zu suchen. Ich habe nichts dagegen, dass meine Teammitglieder das tun, wir arbeiten ja gemeinsam an diesem Projekt
  • Nun, ich vermute, dass mein Kollege unter Druck stand und nicht so recht wusste, was er tun sollte. Aber die Durchsicht meines Aktenschranks und meiner Dokumente hat bei mir ein unangenehmes Gefühl des "Eindringens in die Privatsphäre" hinterlassen

Auch hier können wir bei der Rückschau und Analyse der Situation Folgendes berücksichtigen: Person, Kultur als soziale Praxis, Kontext (engl. PCC). Auf kultureller Ebene könnten wir zwischen Personen unterscheiden, die ein starkes Gefühl dafür haben, was als privat und was als öffentlich wahrgenommen wird. In unserem Fall könnte Huan eine Person sein, die ein starkes Gefühl des Informationseigentums hat, und daher die Durchsuchung seiner Dokumente als Verletzung seiner Privatsphäre empfindet. Andere Personen sind vielleicht weniger besorgt und meinen, dass sie als Team Informationen ohne großes Aufheben weitergeben sollten, und wenn das bedeutet, dass sie danach suchen müssen, dann ist das in Ordnung. Wie im Allgemeinen wahrgenommen wird, was privat und was öffentlich ist, hängt von unseren Sozialisationskontexten und kulturellen Prägungen ab.

Das PCC-Modell
Abbildung: Das PCC-Modell

Das PCC-Modell führt uns vor Augen, dass Kultur als soziale Praxis nicht der einzige Faktor ist, der das Verhalten von Personen beeinflussen kann. Barmeyer und Haupt (2007) argumentieren, dass weitere Faktoren berücksichtigt werden müssten. Als weitere Einflussfaktoren führen sie die Eigenschaften sowie die Persönlichkeit der beteiligten Akteure und den jeweiligen Kontext, in den die Handlungssituation eingebettet ist, an. Bei der Betrachtung der beteiligten Person(en) müssen wir beispielsweise an ihre Position und Funktion, ihre Persönlichkeit, ihre Art der Kommunikation, ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Erfahrung und ihre Offenheit für Unterschiede denken, um nur einige Elemente zu nennen. Der Faktor Situation umfasst Aspekte wie den physischen Kontext, die Machtverhältnisse, die Organisationsstruktur, die Organisationsprozesse, die Wettbewerbssituation und die Projektkonstellation.

Wie bereits erwähnt, gibt es eine große Vielfalt an sozialem Verhalten innerhalb und zwischen Dachkollektiven und Kollektiven. Es wurden umfangreiche Forschungsarbeiten auf der Ebene von Gesellschaften (Länder) durchgeführt, um die verschiedenen Arten der Interaktion und Beziehung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationen zu analysieren und zu vergleichen. Die wohl bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet sind Geert Hofstede et al. (2010 Cultures and Organizations: Software of the Mind, überarbeitete und erweiterte 3. Auflage, New York: McGraw-Hill), Fons Trompenaars & Charles Hampden-Turner (1998 Riding the waves of culture; New York: McGraw-Hill) sowie Edward T. Hall (1959 The silent language; New York: Doubleday; 1966 The Hidden Dimension, New York: Garden City).

Gemeinsam ist diesen Forschern die Suche nach Merkmalen oder Dimensionen, die helfen könnten, eine Gesellschaft zu analysieren und sie mit anderen zu vergleichen. Bei der Konzeptualisierung von Unterschieden orientieren sie sich an Werten, wobei sie argumentieren, dass eine Gesellschaft ihre Mitglieder zu bestimmten Wertprioritäten sozialisiert. Der Einzelne wird dann durch diese Wertorientierung dazu gebracht, sich so zu verhalten, dass es mit den von ihm verinnerlichten Werten vereinbar ist.

Dabei bewertet beispielsweise Geert Hofstede die Länder nach mehreren Wertedimensionen. Seine Arbeit wird von vielen Forschern kritisiert, weil die Verwendung von Werten auf Länderebene voraussetzt, dass die Durchschnittswerte weitgehend repräsentativ für die gesamte Bevölkerung eines Land sind, was offenkundig fraglich ist. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Verallgemeinerung kultureller Muster unabhängig von der jeweiligen Situation. Schließlich geht Hofstede davon aus, dass Wertorientierungen auf Mikro- und Makroebene stabil bleiben. Es gibt jedoch genügend Belege für Vielfalt in der Werteorientierung und für drastische Verhaltensänderungen innerhalb von Gesellschaften, z. B. aufgrund von Digitalisierung und des allgemeinen technischen Fortschritts.

Eine Möglichkeit, diese Kritik zur Kenntnis zu nehmen und gleichzeitig von den Forschungsarbeiten zu profitieren, ist die Verwendung der Dimensionen zur Beschreibung möglicher Verhaltenspräferenzen von Personen in bestimmten Arbeitskontexten. In einem solchen Rahmen können die Dimensionen als Orientierung dienen, eigene soziale Praktiken bewusst zu machen, unterschiedliche und ähnliche Praktiken im Team zu reflektieren, zu diskutieren und möglicherweise Verhaltensänderungen auszuhandeln. Auf diese Weise vermeiden wir Werte-Generalisierungen auf Länderebene.

Die im Folgenden verwendeten Dimensionen stellen lediglich eine Auswahl aus verschiedenen möglichen sozialen Praktiken dar und entspringen der Perspektive der Forscher und Forscherinnen und sind daher in ihrer Konzeption selbst Kulturprodukte, deren Verständnis in diversen kulturellen Kontexten unterschiedlich sein kann. Die Interpretation der Konzepte kann daher variieren und unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Unser Verständnis der Dimensionen in unserem Lernkontext entspringt dem Ansatz von Lane et al. (2019). Diese Dimensionen stellen eine subjektive Auswahl aus verschiedenen möglichen sozialen Praktiken in Arbeitskontexten dar. In Anlehnung an Lane et al. (2019) und dem Ansatz des „Mapping“ kultureller und anderer Unterschiede zwischen Personen, die sich treffen und zusammenarbeiten wollen, werden wir nun sechs Dimensionen vorstellen, erläutern und als Grundlage für eine Selbstreflektion und damit für die Erarbeitung Ihres persönlichen Profils verwenden.


Last modified: Wednesday, 1 May 2024, 11:11 PM