Die so genannte "quasi-natürliche Weltsicht" geht davon aus, dass wir bei Begegnungen mit anderen Menschen in der Regel unser Wissen und unsere Annahmen, die wir nutzen, um Verhalten zu interpretieren, als Tatsachen betrachten. Da wir wissen, dass es unterschiedliche Gewohnheiten, Werte und Bedeutungen gibt, verwenden wir unser vorhandenes Wissen zum Interpretieren und erweitern es durch Nachfragen, um dieses Wissen zu vertiefen und mehr zu verstehen. Auch die Wissenschaft liefert uns Interpretationen und Rahmenbedingungen, wenn wir z.B. ein kulturelles Profil entwickeln, wie Sie es als Teil der Lerneinheit 6 getan haben. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass wir uns mit unabhängigen und interdependenten Mustern sowie mit indirekter und direkter Kommunikation befasst haben, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich um wissenschaftliche Konstruktionen und Kategorien zweiter Ordnung, die uns wie Alltagswissen helfen, einer Handlung Bedeutung zuzuschreiben. Ein interkultureller "Experte" könnte zum Beispiel sagen: "Er verwendet eher einen indirekten Stil und kommuniziert mit viel Kontext im Gegensatz zu der anderen Person, die eher den direkten Stil wählt und Kommunikation ohne Kontext verwendet". Diese Art des Denkens spiegelt sich in den vielen kulturkontrastiven "kritischen Vorfällen" wider, die ein bestimmtes kulturelles Verhalten veranschaulichen sollen. Aufgrund der Notwendigkeit, Ordnung in interkulturelle Interaktionen zu bringen, wurden und werden diese Kategorien oft als Deutungen benutzt, um eine bestimmte Situation zu interpretieren und ihr einen Sinn zu geben.
Quelle: Basierend auf Rathje, Stefanie (2015). Multicollectivity – It changes everything. Key Note Speech auf dem SIETAR Europe Congress
Illustration: Julia Flitta (www.julia-flitta.com)
Die Hauptannahme ist dabei, dass es bestimmte kulturelle Faktoren gibt, die die Situation beeinflussen. Ausdieser Perspektive wird Kultur als "Lebens- und Handlungsweise" betrachtet. Dieses Konzept wird meist mit nationalen Kulturen in Verbindung gebracht, geht aber auch mit jeder anderen Vorstellung von einer geschlossenen Gruppe von Menschen als Mitglieder einer Gemeinschaft, z. B. die "britische Familie", "Golfer", "alle Muttersprachlerinnen des Hindi" einher. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, wird hier auf das geschlossene Konzept der Kultur Bezug genommen, das Sie in der ersten Lerneinheit kennen gelernt haben. Weiterhin liegt unser Schwerpunkt auf einem dynamischen Verständnis von Kulturen und dem Ansatz der Multikollektivität. Wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass wir, wenn wir eine oder mehrere kulturelle Erklärungen verwenden und versuchen, die Absichten einer Person zu verstehen, automatisch interpretieren, Motive und Bedeutungen zuschreiben und damit in dem Moment einen geschlossene Kulturbegriff verwenden. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht für andere Hypothesen als Erklärungen öffnen können, was wir auch sollten. Da sich interkulturelle Kommunikation aus dieser Perspektive auf unterschiedliche Bedeutungen und Erwartungen konzentriert, könnte man sagen, dass Missverständnisse die logische Konsequenz sind, wenn Menschen mit unterschiedlichen gewohnten Orientierungen von Gruppen oder Gemeinschaften aufeinander treffen. Wann immer wir diese Meta-Perspektive der "Quasi-Weltanschauung" verwenden, arbeiten wir also mit Annahmen über die Motive oder Absichten anderer und uns selbst, und wir interpretieren und wenden das Wissen an, das wir haben. Daher glauben wir, dass beim Umgang mit einem / einer Fremden, d. h. mit dem, was wir nicht kennen oder was uns fremd oder "unnormal" erscheint, ein verstehender Perspektivenwechsel dazu beiträgt, das Verständnis zu fördern und die Entwicklung interkultureller Kompetenz zu unterstützen.
Beispiel: Eine Email an meine Kollegin
(Inspiriert von Ferres, R., Meyer-Belitz, F., Röhrs, B., & Thomas, A. (2005): Beruflich in Mexiko. Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte.)
Emily arbeitet als Customer Service Managerin in den Niederlanden. Eine ihrer Teamkolleginnen arbeitet in Mexiko-Stadt. Emily muss ihrer Chefin regelmäßig über die Kundenentwicklung Bericht erstatten. Vor kurzem hat diese sie gebeten, ein Update über die aktuellen Kundendaten zu erstellen. Zu diesem Zweck schreibt Emily an ihre Kollegin:
"Liebe Miranda,
könnten Sie mir bitte unsere neue Kundenliste schicken?
Vielen Dank und herzliche Grüße,
Emily."
Miranda antwortet, dass sie die Daten senden wird. Es passiert jedoch nichts.
Dies ist ein kritisches Ereignis, bei dem die Teilnehmenden z. B. in einer Schulung zur interkulturellen Kompetenzentwicklung lernen, die Dimension "Beziehungsorientierung" zu nutzen, anstatt davon auszugehen, dass Miranda einfach eine faule oder unhöfliche Person ist oder dem Stereotyp nach eine "Mañana-Mentalität" hat. Mit dem Wissen, dass Vertrauen und Beziehungen im lokalen Arbeitskontext eine wichtige Rolle spielen können, sind wir besser in der Lage, die Situation zu verstehen und dementsprechend Mittel und Wege zu finden, um die Situation zu bewältigen. Aus dieser Perspektive verringert Emily die Chancen, eine Antwort zu erhalten, da sie nicht versucht, eine persönliche Beziehung aufzubauen, und dies wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass Miranda keine Verpflichtung sieht, ihr zu helfen. Vielmehr könnte sie die E-Mail sogar als unhöflich und unfreundlich empfinden. Damit Miranda sich verpflichtet oder motiviert fühlt, zu antworten, hätte Emily folglich einige persönliche Bemerkungen machen oder andere Arten des Beziehungsaufbaus betreiben können, da eine verbindliche Antwort nicht durch die bloße Tatsache ausgelöst wird, dass sie Teammitglieder sind.
Zusammenfassung: Die quasi-natürliche Weltanschauung als Meta-Perspektive
Der interkulturelle Ansatz ist entstanden, weil wir schwer interagieren können, ohne den Handlungen der Beteiligten einen Sinn zu geben, wenn wir Missverständnisse erleben. Grundlage dafür ist unser Wissen über mögliche andere Handlungsgründe, Werte als Motive und gewohnheitsmäßige Orientierungen in verschiedenen Kulturen. Die Nutzung dieser Wissensbasis führt im Moment des Interpretierens zu einem geschlossenen Kulturbegriff (z.B. Nationen, Länder, Regionen, Mentalitäten, gewohnte Orientierungen).
Die quasi-natürliche Weltsicht und der interkulturelle Lernansatz
- betrachten Menschen als primär "zugehörig" zu (einer oder mehreren) handlungsleitenden Kulturen
- antizipieren die Wahrscheinlichkeit von Kulturkonflikten, wenn Menschen ("aus verschiedenen Kulturen") aufeinander treffen (Kultur als unabhängige Variable)
- Ziel ist es, Orientierungen zu verstehen, z. B. Werte, Motive und Bedeutungen
- nutzen vorhandenes Wissen oder suchen nach Routinen in den jeweiligen Kulturen als Grundlage für die Interpretation
- Ziel ist es, die Perspektive in der Interaktion zu wechseln und andere Beteiligte zu verstehen
- sind orientiert an der Aufklärung: Verstehen, Nachvollziehen und Begründen als Erkenntnisgewinn.
Typische Vertreter und Vertreterinnen des kulturkontrastiven Ansatzes sind:
- Edward T. Hall (e.g. "The hidden dimension", 1976; "The dance of life", 1984)
- Geert Hofstede, Gert Jan Hofstede & Michael Minkov ("Cultures and organizations – Software of the mind: Intercultural cooperation and its importance for survival", 2010
- Michele Gelfand ("Rule makers, rule breakers: How tight and loose cultures wire our world", 2018)