Bis zu diesem Punkt haben wir kulturelle Ressourcen so behandelt, als wären sie immer gleichwertig. Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der kritischen interkulturellen Kommunikation kritisieren grundsätzlich einen Kulturbegriff, der sich mit Gewohnheiten und Werten befasst und Machtasymmetrien im Zusammenhang mit der Gruppenzugehörigkeiten übersieht. Sie sind der Ansicht, dass die Rede von Kultur Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verschleiert. Aus dieser Meta-Perspektive wird die Rede von Kulturen als Deckmantel für den Kampf um die Macht gesehen. Macht ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt im Sinne von "ich nutze meine Macht, um den anderen zu beeinflussen" gemeint, sondern eher als versteckte Herrschaft vermittels vorherrschender asymmetrischer sozialer Strukturen. Diese bewirken in jeder Begegnung mehrfache Machtasymmetrien.
Wenn wir die den meisten Situationen zugrundeliegenden Bedingungen betrachten, können wir feststellen, dass die Privilegien stets vorab ungleich verteilt sind. Folglich greift alles, was wir in unserem natürlichen Weltbild mit interkultureller Kommunikation verbinden, aus dieser Meta-Perspektive zu kurz und ist Ideologie. Die Vorstellung von bestimmten kulturellen Merkmalen wird zur Definition einer Person verwendet, was oft eine Form von Orientalismus, Sexismus oder Neokolonialismus ist. Holliday/Hyde/Kullmann (2004) bezeichnen dies als "Otherization", wenn es zu Konflikten kommt, wie sie am Beispiel eines französisch-tunesischen Liebespaares zeigen, das sich in Tunesien erst kennenlernt. In der Begegnung der beiden spielen eine Vielzahl damit verbundener Hintergründe eine Rolle (z. B. europäisch, westlich, ein bestimmtes Alter, ein bestimmter Bildungsstand). Auch die besondere situative Kultur, in der sich das Paar kennengelernt hat, die Tatsache, dass sie eine Touristin ist, und die Tatsache, dass er ein Einheimischer ist, der vom Tourismus lebt, beeinflussen ihre "interkulturelle Begegnung". Einige Wissenschaftler sind sogar der Meinung, dass der Begriff "interkulturelle Kommunikation" Teil der Probleme der Welt ist, da wir zu sehr davon besessen sind, über "harmlose" Unterschiede zu sprechen. Aus dieser Perspektive ist Kultur eine Arena, in der um Ressourcen und Zugehörigkeit gekämpft wird, und manchmal sogar um das Recht, überhaupt zu existieren, wenn wir zum Beispiel die "Black Lives Matter"-Bewegung sehen.
Die Meta-Perspektive berücksichtigt die globalen, makroökonomischen Einflüsse auf die Identitäten der Menschen und ihre Interaktion und schließt politische Dimensionen ein. Aufgrund von Umständen, die wir uns nicht alle erarbeitet haben, verfügen wir über unterschiedliche Ressourcen und verschiedenes soziales Kapital, z. B., ob wir eine Person of Color (PoC) sind oder nicht, eine männliche, weibliche oder diverse Person, mit oder ohne Behinderung, gleichgeschlechtlich liebend oder heterosexuell, alt oder jung, verheiratet oder unverheiratet, Kinder haben oder nicht, gut ausgebildet sind oder nicht, wirtschaftlich stabil dastehen oder nicht usw. Alle diese Kategorien (einige von ihnen werden auch als Diversity-Kategorien bezeichnet), als Paare und Pole betrachtet, beinhalten asymmetrische Beziehungen.
Quelle: Nazarkiewicz, Kirsten (2016)
Abbildung für diesen Kurs erstellt von Kirsten Nazarkiewicz
Die (vereinfachte) Illustration deutet graphisch an, dass es verschiedene asymmetrische Achsen hinsichtlich der kulturellen Ressourcen der Beteiligten gibt. Im Hinblick auf die Chancen der Menschen, werden die asymmetrischen Positionen strukturell als globale Positionen reproduziert. In jedem gegebenen Kontext gibt es einen Mainstream, der als "Normalität" angesehen wird. Diejenigen, die sich dem Mainstream verhalten, verfügen in der Regel über mehr Macht, Möglichkeiten und Ressourcen. Dieser Ansatz wird als machtreflexive Praxis bezeichnet, weil wir beim Sprechen diese Machtpositionen rekonstruieren oder dekonstruieren, d.h. für die Interaktion reflektieren und ggf. korrigieren. Jede Praxis des Wissens, Denkens, Interpretierens und Sprechens steht in Beziehung zu dominanten Diskursmustern. Das Wissen und die Worte, die wir verwenden, tragen die Asymmetrien als verborgene Bedeutungen und Werte in sich, und es ist heikel, sie anzusprechen. Diese Meta-Perspektive wird "Praxis" genannt, weil wir sie im Diskurs und in den Sprechakten, die wir verwenden, wiederfinden und situativ intervenieren können. Daher können diese Machteinflüsse und alltäglichen Praktiken mit Gleichstellungsgesetzen oder Gesetzen gegen Diskriminierung koexistieren.
Beispiel:
In einer Studie der Johannes Kepler Universität Linz (Weichselbaumer 2016) wurden rund 1500 fiktive Bewerbungen für eine Stelle an die einstellenden Organisationen geschickt. Die Vorgeschichte: Identische Berufserfahrungen und Lebensläufe wurden entweder mit einem typisch deutschen Namen, einem typisch türkischen Namen (und dem identischen Bild) oder der gleichen Frau mit Kopftuch kombiniert. Die Ergebnisse zeigen: Die inhaltlich völlig identische Bewerbung mit dem deutschen Namen hatte eine positive Resonanz von 18,8 %, mit einem türkischen Namen von 13,5 % und dem Tragen eines Kopftuches von 4,2 %. Die Schlussfolgerung: Wenn Sie ein Kopftuch tragen, müssen Sie sich 4,5-mal häufiger bewerben, um die gleiche Resonanz zu erzielen. Im Bewusstsein, dass es diese Bias gibt, wäre eine Dekonstruktion zum Beispiel, grundsätzlich in Bewerbungen bei der Auswahl Bilder nicht anzufordern, wie es an einigen Orten schon der Fall ist.
Quelle: Weichselbaumer, Doris (2020). Mehrfachdiskriminierung von kopftuchtragenden Immigrantinnen. Zeitschrift für Industrie- und Arbeitsbeziehungen, 73 (3), S. 600-627.
Zusammenfassung: Die machtreflexive Meta-Perspektive als Praxis
- Kulturbegriff: differenz- und diversitätsorientiert, daher ist "Kultur" ein Schauplatz von Machtkämpfen
- Kultur wird als Ideologie betrachtet (Ausschlüsse von Personen mit der Vorstellung von dem, was "normal" ist)
- berücksichtigt die Ungleichheit, die mit Diversitätsfaktoren (wie Lebensanschauung, Geschlecht, Alter, körperliche Fähigkeiten, sexuelle Orientierung) und anderen relevanten Einflüssen wie Bildung, Religion, Einwanderungsstatus, Nicht-Einheimische/Einheimische, elterlicher Status usw. verbunden ist.
- versucht, "Macht" und asymmetrische Machtverhältnisse aus globalen Makroeinflüssen als (Stör-)Faktoren zu identifizieren
- Machtunterschiede sind unbemerkte Voraussetzungen für Interaktion und Identität
- hat eine politische Dimension: dekonstruiert Diskurse
- Chancengleichheit, Partizipation und Teilhabe sowie Gerechtigkeit wird angestrebt
- reflektiert Prämissen und zielt darauf ab, Dominanz beim Sprechen und Handeln zu reduzieren
Vertreter und Vertreterinnen der kritischen interkulturellen Kommunikationstheorien sind z. B.:
- Edwin Hoffman & Arjan Verdooren ("Diversity competence. Cultures don't meet, people do", 2019)
- Adrian Holliday, Martin Hyde & John Kullmann ("Intercultural communication an advanced resource book", 2004)
- Thomas K. Nakayama & Rona Tamiko Halualani (Editors of "The handbook of critical intercultural communication (Handbooks in communication and media)", 2010)
- Guido Rings & Sebastian Rasinger ("The Cambridge introduction to intercultural communication", 2023)
- Kathryn Sorrells ("Intercultural communication. Globalization and social justice", 2013)
Aufgabe: White Fragility ("Weiße Zerbrechlichkeit")
Notieren Sie die Antworten auf die folgenden Fragen in Ihrem Learning Journal.
- Was ist "Weiße Zerbrechlichkeit"?
- Warum ist es für Weiße und damit auch für People of Colour so schwierig, über Rassismus zu sprechen?
Bevor Sie diese Fragen beantworten, sehen Sie sich bitte ein Interview mit den beiden folgenden Bestseller-Autorinnen an:
- Robin DiAngelo, Autorin des Buches "White Fragility. Why it's so hard for white people to talk about racism" (2018)
- Reni Eddo-Lodge, die im Vereinigten Königreich das Buch "Why I'm no longer talking to white people about race" (2018) veröffentlicht hat.
Video-Vorschläge:
Robin DiAngelo ber weiße Zerbrechlichkeit, Amanpour and Company [10 Minuten]
Reni Eddo-Lodge: Why I'm no longer talking to white people about race [12 Minuten]