Fallstudie: Die „Stadtbild“-Aussage von Kanzler Merz als glokales Ereignis

Fallstudie: Die „Stadtbild“-Aussage von Kanzler Merz als glokales Ereignis

von Marie-Joseph Gomis -
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Im Herbst 2025 löste Bundeskanzler Friedrich Merz mit einer Aussage über das „Stadtbild“ eine breite Diskussion aus, die sich innerhalb weniger Stunden von einem politischen Moment zu einem sprunghaften und eigendynamischen Ereignis entwickelte [1]. Merz sagte, im „Stadtbild“ deutscher Städte gebe es weiterhin „Probleme“, die verstärkte Rückführungen notwendig machten [1]. Obwohl der Begriff an sich neutral wirkt, führte seine Verbindung mit Migration dazu, dass viele Menschen ihn als Anspielung auf sichtbar migrantische Gruppen verstanden [2]. Die Reaktionen zeigen, wie stark politische Sprache globale Diskurse aufgreifen kann und gleichzeitig lokal sehr unterschiedliche Bedeutungen bekommt.

Sprunghaftigkeit.
Die Aussage verbreitete sich schnell über soziale Medien [1]. Journalist:innen, Aktivist:innen, Politiker:innen und migrantische Organisationen kommentierten den Ausschnitt und ordneten ihn ein [2, 3]. Innerhalb kürzester Zeit entstanden Proteste, unter anderem in Kiel, wo sich rund 1.500 Menschen versammelten [4]. Die Geschwindigkeit, mit der sich Kommentare, mediale Beiträge und zivilgesellschaftliche Reaktionen gegenseitig verstärkten, macht die sprunghafte Dynamik deutlich: Ein kurzer Satz löste eine bundesweite Diskussion aus.

Eigendynamik.
Die Debatte entwickelte sich unabhängig vom ursprünglichen politischen Anlass weiter. Statt bei der Frage nach Abschiebungen zu bleiben, rückten plötzlich Themen wie Alltagsrassismus, Zugehörigkeit und die Wirkung politischer Begriffe in den Mittelpunkt [2, 5]. In Medien und sozialen Netzwerken wurde diskutiert, wie Sprache bestimmte Gruppen markiert und welche gesellschaftlichen Bilder dadurch entstehen [2]. Der Begriff „Stadtbild“ bekam so eine neue Bedeutung, die nicht durch Merz selbst festgelegt wurde, sondern durch die vielen Reaktionen darauf [1, 2].

Glokale Verflechtungen.
Die Diskussion lässt sich als glokal bezeichnen, weil sie globale Diskurse über Migration, Diversität und die Frage „Wer gehört dazu?“ aufgreift und in lokalen Kontexten konkret macht [2, 5]. Verschiedene Gruppen verstanden die Aussage sehr unterschiedlich: Für manche war sie ein Hinweis auf reale Herausforderungen im öffentlichen Raum [3], für viele Menschen mit Migrationsgeschichte wirkte sie wie eine Infragestellung ihrer Zugehörigkeit [2]. Städte wie Berlin, Köln oder Frankfurt wurden zu wichtigen Schauplätzen der Reaktion [4]. Dadurch zeigt sich glokale Interpretationen: Globale Themen bekommen ihre konkrete, oft emotionale Bedeutung erst durch lokale Erfahrungen und Perspektiven.

Relationale Perspektive.
Aus einer relationalen Perspektive treffen in der Debatte verschiedene Akteur:innen aufeinander und beeinflussen sich gegenseitig:

  • Politische Akteure, insbesondere Friedrich Merz und andere Regierungs- und Oppositionsvertreter:innen, die auf die Debatte reagierten und ihre eigene Interpretation in den Diskurs einbrachten.[1, 6, 7]
  • Migrantische Communities, die die Aussage als Angriff auf ihre Zugehörigkeit empfanden und online wie offline Widerstand artikulierten.[2]
  • Medien, die durch ihre Berichterstattung die Reichweite und Deutung der Aussage stark verstärken. [1, 2, 3]
  • Zivilgesellschaftliche Gruppen, wie antirassistische Initiativen, Stadtteilgruppen und NGOs, die durch Proteste lokales Handeln sichtbar machen.[4]
  • Digitale Öffentlichkeiten, u.a. Nutzer:innen auf X/Twitter, Instagram und Facebook, Diskurse global verknüpften (z. B. Othering, Racialization) und die Debatte beschleunigten.

Durch diese vielfältigen Beziehungen entsteht ein Zusammenspiel, das die Debatte weit über ihren Ursprung hinaus trägt. Die „Stadtbild“-Aussage zeigt damit deutlich, wie politische Sprache Entwicklungen anstoßen kann, die sich in einer vernetzten Welt sprunghaft ausbreiten und eine eigene Dynamik entfalten – gleichzeitig global anschlussfähig und lokal besonders wirksam.

Durch diese Vernetzung entsteht ein relationales Gefüge, in dem globale Deutungsmuster und lokale Erfahrungen gegenseitig Resonanz erzeugen. Die Merz-„Stadtbild“-Äußerung ist damit ein exemplarisches Beispiel für ein sprunghaftes, eigendynamisches und glokales Ereignis.

 


Quellenliste (nummeriert)

[1] Deutschlandfunk. (2025, 23. Oktober). Migrationsdebatte: Merz’ Problem mit dem „Stadtbild“. https://www.deutschlandfunk.de/friedrich-merz-stadtbild-migration-diskussion-100.html

[2] Spiegel. Çelik, C. (2025, 22. Oktober). Wenn der Kanzler über das Stadtbild spricht, fühlen sich Menschen wie ich gemeint. https://www.spiegel.de/politik/stadtbild-debatte-was-friedrich-merz-in-der-migrantischen-community-ausloest-a-df9e4fd9-e7ac-487d-94ec-bd2676481430

[3] Spiegel. Müller, A.-K. (2025, 22. Oktober). Thema verfehlt, Herr Bundeskanzler.

[4] Welt. (2025, 21. Oktober). Töchter-Demos gegen Merz - Kanzler hält alles für geklärt.

[5] Tagesschau.de. Grasnick, B.(2025, 17. Oktober). Analyse des „Stadtbild“-Begriffs in der politischen Kommunikation. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merz-stadtbild-migration-100.html

[6] Tagesschau.de. Spahn, J. (2025,26. Oktober). Der Bundeskanzler spricht aus, was die Mehrheit denkt.

[7] Kretschmer, M. (2025, Oktober). Michael Kretschmer verteidigt Merz. Der Spiegel.